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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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was wirklich mit ihm los war. Er hatte den Eindruck, daß sein Termin bei Dr. Troogenbuck eine Art Prüfung war. Er glaubte, bei ihm entschied sich, ob er in Kur fahren durfte oder nicht. Abschaffel saß auf dem Bettrand und überlegte. Seit einer halben Stunde sah er aus seinem Balkonfenster. Am Dach des Hauses gegenüber stieg Rauch empor. Es war weißer, ruhiger Rauch, und Abschaffel wußte, daß es sich um normalen Heizungsrauch handelte. Der Schornstein, aus dem der Rauch emporstieg, war aber hinter einem Dachfirst verborgen, und deshalb sah es so aus, als sei am Dach selbst ein Feuer ausgebrochen. Abschaffel kämpfte schon eine ganze Weile gegen die Lust an, jemand aus dem Haus gegenüber anzurufen und ihm zu sagen, daß das Haus brannte. Dabei ließ er diese Lust nicht richtig nach vorne kommen. Im Vordergrund überlegte er, was er Dr. Troogenbuck sagen sollte, sah aber die ganze Zeit auf den weißen Rauch. Er wußte, er rief nicht an, aber er wollte seine Lust nicht so schnell erledigt wissen. Er wollte nicht schon wieder so schnell vernünftig sein. Ob vielleicht sogar die Feuerwehr kam? Und ob dann allgemein bemerkt wurde, daß es sich glücklicherweise um einen Fehlalarm gehandelt hatte? Es war wieder einmal alles bloß lächerlich. Er war vernünftig, und das mußte er akzeptieren. Er war sogar böse, weil er sich so lange mit einer sinnlosen Erregung aufgehalten hatte, die er noch dazu von Anfang an durchschaut und trotzdem nicht hatte aufheben können. Aus Verärgerung verließ er viel zu früh die Wohnung. Er fuhr nicht mit der U-Bahn, sondern lief in die Stadt. Während des Gehens belästigten ihn Sorgen, die durch das Gehen zugleich abgedämpft wurden. Diesmal sorgte er sich darum, wie die Firma reagierte, wenn er tatsächlich sechs Wochen nicht dasein würde. Würde er danach noch bei Ajax arbeiten können? Wußte man in der Firma, in welcher Klinik er sein würde? Mindestens das Chefsekretariat, und das war Frau Morlock, würde Bescheid wissen. Und wenn Frau Morlock es wußte, wußten es gleich drei andere. Und wie sollte er es mit den Eltern halten? Ertrugen sie überhaupt diese Information: der Sohn war erkrankt, und seine Krankheit war merkwürdig? Mußte er nicht wenigstens dafür sorgen, daß er eine Krankheit hatte, die seinen Eltern verständlich und leicht vorkam?
    Geh-Sorgen waren leichter als Liege-Sorgen. Geradezu locker schmetterte er den Andrang der Sorgen ab. Es genügten, wenn er ging, einfache Ablenkungen, damit die Sorgen seinen Kopf wieder freigaben. Und als er wieder am Büro der Bausparkasse angekommen war, verflüchtigten sich die Bekümmernisse vollends. Er blieb vor dem linken Schaufenster der Bausparkasse stehen und betrachtete wieder die Modelle der Bausparhäuschen, und er überlegte, mit welcher Ausrede er das Büro betreten und um die freundliche Aushändigung eines Modells bitten könnte. Durch die Scheibe sah er, daß im Büro nur ein ganz junger Angestellter saß, von dem Abschaffel glaubte, daß er eine alberne Erklärung nicht durchschauen konnte. Und Abschaffel betrat das Büro und sagte, seine Frau sei Kindergärtnerin, und sie gehe mit den von ihr betreuten Kindern fast jeden Tag an den Schaufenstern der Bausparkasse vorbei, und die Kinder fragten sie jedesmal, ob ihnen die Tante nicht so ein Häuschen zum Spielen besorgen könnte. Und wirklich, das Gesicht des jungen Angestellten nahm einen teilnehmend-freundlichen Schimmer an. Einen Augenblick bitte, sagte er und erhob sich, ich kann das nicht allein entscheiden. Der junge Angestellte verschwand im hinteren Teil des Büros, und Abschaffel war eine Weile ganz allein. Nach weniger als zwei Minuten erschien der junge Mann wieder, und er trug etwas in beiden Händen. Ein Modell können wir leider nicht abgeben, sagte er, weil diese Modelle regelmäßig an unsere Zentrale zurückgeschickt werden müssen. Damit die Kinder aber nicht leer ausgehen, hat unser Chef zwei Hände voll mit Ansteckclips gestiftet, sagte er. Und der junge Angestellte leerte in Abschaffels schon geöffnete Hände eine Menge grüner Clips zum Anstecken an Mänteln und Jacken. Auf jedem Clip stand der Werbespruch der Bausparkasse. Abschaffel verließ rasch das Büro. Draußen schimpfte er kurz auf den Chef des Büros, der offenbar wirklich glaubte, eine Kindergärtnerin würde ihren Kindern seine blöden Werbeclips anstecken. Er warf sie in den nächsten Papierkorb, nicht ohne sich wieder einmal an die Wunschversagungen seiner Jugendjahre zu

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