Abschaffel
türkische Jammermusik. Eine junge Türkin mit stark verpickeltem Hals gab ihm eine Papierserviette und Besteck. Abschaffel stellte sich schon vor, was er tun sollte, wenn er gegessen hatte. Er konnte kaum begreifen, daß er nichts vorhatte. Er konnte kaum verstehen, daß ein halber Tag vor ihm lag, ein leerer halber Tag, morgen ein ganzer leerer Tag, übermorgen schon wieder. Am liebsten wäre er immer in einer Imbißstube geblieben und hätte durch die große Scheibe hinaus auf die Straße gesehen. Das Hammelfleisch war sehr gut, und Abschaffel sah auf die Straße. Seinetwegen konnten die Ärzte alles mögliche feststellen, er blieb in Imbißstuben stehen und sah auf die Straße hinaus. Er hatte das Gefühl, als verabschiedete er sich von seinem Körper. Er hatte das Vertrauen in ihn endgültig verloren. Einen Frauenrücken hatte er schon. Konnte nicht übermorgen ein Arzt behaupten, er hätte die klassischen Hundebeine? Und dann behauptete ein anderer Arzt, er bekäme die hohen Klappaugen eines Krokodils? Und wäre er dann endgültig ein Tier, das auf dem Boden einer Imbißstube herumrutscht und auf herunterfallende Speisereste wartet? Das alles ließ sich nur ertragen, indem Abschaffel die weitere Zugehörigkeit seines Körpers zu ihm selbst leugnete. Einen alten Frauenrücken wollte er nicht, und alles andere, was vielleicht noch kam, wollte er auch nicht. Er fühlte sich auseinanderfallen, und an den freien Stellen, wo früher seine Körperteile zweifelsfrei fest angewachsen waren, schabte eine Art Kälte, die er nicht verstand. Er aß viel, er aß seinen ganzen Teller leer, weil er das Gefühl hatte, durch Essen wieder vollständiger zu werden. Er stand still und war maßlos erschöpft. Er sah zu, wie sich seine eigenen Hände bewegten, und er wartete darauf, wie sie sich in etwas Fremdes verwandelten. Aber seine Hände blieben seine Hände, und ganz langsam ging er dazu über, es wieder zu glauben. Es blieb eine kleine Erschütterung zurück, mit der er nach Hause fuhr. Er legte sich sofort hin und schlug eine Wolldecke über seinen rätselhaften Körper. Er starrte eine Weile auf die Heizungsrippen und schlief dann ein. Er träumte einen Traum, der schön begann und entsetzlich endete. Er hatte sich eine große Wohnung gemietet. Es waren mindestens vier schöne große Zimmer, vielleicht sogar fünf, und er freute sich auf den Einzug. Aber als er die Wohnung genauer betrachtete, bemerkte er, daß es gar keine Wohnung war, sondern eine Schule. Es waren die Räume der Volksschule, die Abschaffel vier Jahre lang nach dem Krieg besucht hatte, und als er erkannt hatte, daß es keine Wohnung, sondern seine alte Schule war, suchte er nach seinem alten Lehrer Strobel. Dieser Strobel war der Schrecken und die Qual aller Kinder. Wer von Lehrer Strobel bestraft wurde, sank fast ohnmächtig in seine Bank zurück. Er pfetzte mit Daumen und Zeigefinger die Brustwarzen der Kinder zusammen und drehte sie einmal halb um. Im Traum suchte Abschaffel den Lehrer, den er zwei Jahre lang in Deutsch und Erdkunde zu ertragen gehabt hatte, aber er fand ihn nicht. Abschaffel zog nicht in diese Wohnung ein, sondern verließ das Haus halb ohnmächtig. Unten auf der Straße sah er dankbar, daß in diesem Haus eine Imbißstube eingerichtet war, und er ging sofort auf sie zu. Er bedauerte, nicht in diese schöne Wohnung einziehen zu können. Wie schön wäre es gewesen, wenn er hier hätte wohnen können. Und wenn er sich schlecht und verlassen gefühlt hätte, hätte er jederzeit die Imbißstube betreten und das wärmende Geschwätz der Leute anhören können. Aber da bemerkte er, daß auch mit der Imbißstube etwas nicht stimmte. Und zwar stellte er fest, daß es eine Imbißstube nur für alte Leute war, die kein Geld mehr hatten. Wer alt, hilflos und pleite war, durfte hier um ein Glas Bier anstehen. Abschaffel wollte nicht zu den Alten und Hilfslosen zählen, und er verließ rasch die Imbißstube. Kurz danach wachte er auf, aber er konnte seinen Traum nicht richtig zusammensetzen. Er sah wunderschöne Brustwarzen und ein Glas Bier, und er glaubte, von Margot geträumt zu haben. O Gott, er hatte von Margots Brustwarzen geträumt, glaubte er, und schon sehnte er sich.
Am Morgen, als er bei Dr. Troogenbuck bestellt war, überlegte er lange, was er dem Psychotherapeuten sagen sollte. Sein Termin war erst um elf Uhr. Es gefiel ihm, von Arzt zu Arzt geschickt zu werden. Es war wie eine Veröffentlichung des Gefühls, daß niemand wußte,
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