Abschaffel
Mantel in der Küche über, um sich selbst und den Mantel noch einmal in dieselbe Situation zu bringen, in der er auf der Straße den Knopf in die rechte Manteltasche gesteckt hatte. Aber selbst der Zorn über das Abwesende läßt nach, Dr. Troogenbuck. Den Mantel auf dem Leib, fand er den Knopf mit dem ersten Griff in der rechten Manteltasche. Müde und irre geworden zog er den Mantel aus und fürchtete sich. Warum hatte er den verdammten Knopf nicht vorher gefunden? So etwas war ihm früher niemals passiert. Er legte den Knopf auf den Tisch und breitete den Mantel über den Knien aus. Es lag schon Jahre zurück, seit er zum letztenmal einen Mantelknopf angenäht hatte. Und er wollte den Knopf ganz fest annähen, damit er wieder jahrelang hielt. Er suchte den stärksten Faden, den er in seinem Nähzeug finden konnte. Ist das nun mein Eintritt in die Schlaftablettenfamilie? fragte er Dr. Troogenbuck. Aber es war schwer, die dünne Nähnadel durch den dicken Mantelstoff hindurchzudrücken. In seinem Nähetui war zwar ein Fingerhut, aber es war ein Fingerhut aus Plastik, und der Fingerhut hatte einen Sprung quer durch sein Gehäuse. Er war nicht zu gebrauchen. Ganze Straßenzüge sind hier am verschmerzen, Dr. Troogenbuck, aber wie gedopt nehm ich das alles schon hin. Mit den bloßen Fingern konnte er die Nadel nicht durch den Mantelstoff hindurchdrücken. Er sah es lange nicht ein, daß er es nicht vermochte, und versuchte es immer wieder von neuem. Er konnte nicht einsehen, daß ihm noch ein einziges Mal im Leben etwas mißlang. Und während es ihm wirklich und tatsächlich nicht gelang, den Knopf anzunähen, begann er, den Mantel zu verabscheuen. In seiner Verzweiflung kam er nicht auf die Idee, daß es sein lächerliches Nähzeug war, das nichts taugte. Und auf diese Idee kam er nicht, weil er niemals davon ausging, daß es immer wieder Waren gab, die zwar neu, aber dennoch von Anfang an wertlos waren. Sogar den Plastikfingerhut steckte er wieder in das Plastiketui zurück, obwohl er doch eben erst bemerkt hatte, daß der Fingerhut nicht zu gebrauchen war. Mißgünstig trennte er sich von den Gegenständen. Der Mantel lag über der Stuhllehne, das Nähzeug auf dem Tisch. Von Minute zu Minute wartete er darauf, daß dieser Dreck endlich aus seinem Kopf verschwand. Er war doch jetzt krank und frei, und warum gelang es ihm nicht, das Sinnvolle zu tun und das Wichtige zu denken? Eben das ist das Problem, Dr. Troogenbuck.
Drei Tage später ließ Abschaffel in der Praxis von Dr. Rüst einen Schilddrüsentest machen. Die Untersuchung dauerte den ganzen Tag, und sie ergab eine Woche später, daß seine Schilddrüse normal arbeitete. Die Reihe seiner Arztbesuche war damit abgeschlossen. Weil er nun, was seine Heilbehandlung betraf, vorerst nur warten konnte, ging er einige Tage später wieder arbeiten. Die Kollegen verhielten sich zurückhaltend. Er sprach mit niemandem über seine Krankheit und seine in Aussicht stehende Behandlung. Er bemerkte, daß eine undefinierbare Krankheit ein großer Schutz war. Die Kollegen gewöhnten sich ihm gegenüber eine Art Sanatoriumshaltung an. Manche, wie Frau Hannemann, senkten sogar die Stimme, wenn sie ihn ansprachen. Andere vermieden die Ansprache überhaupt. Alles, was geschah, geschah in großer Entfernung von ihm. Er wartete auf den Bescheid, wann seine Behandlung begann; niemals zuvor in seinem Berufsleben war ihm eine ähnlich lange Zeit des Ausruhens zugestanden worden. Die Tage vergingen in größter Stille. Er schwieg, und wer schwieg, der litt, und wer viel schwieg, litt mit besonderen Gründen. Nur einmal traten seine Rückenschmerzen in voller Stärke auf, unglücklicherweise an einem Sonntag. Er wartete in der Sonntagsstille seine Wiederherstellung ab; er hatte vergessen, daß er auf eine bestimmte Weise aufstehen mußte, damit er schmerzfrei blieb. Der Schmerz war so stark wie beim erstenmal, nur sein Schreck blieb weg. Abschaffel verhielt sich schon wie ein Routinier zu seinem eigenen Gebrechen. Er wußte, daß er in spätestens zwei bis drei Stunden die Bewegungsstarre überwunden hatte, und so war es auch.
Abends, nach Feierabend, kaufte er manchmal billige Unterwäsche oder ein im Preis herabgesetztes Hemd. Er hatte sich zu Hause eine Ecke hergerichtet, wo er alles hinlegte, was er zur Kur mitnehmen wollte. Einmal entdeckte er in einem Kaufhaus einen Sonderposten gefütterter Lederhandschuhe; sie gefielen ihm gut, und weil er keine Handschuhe hatte, kaufte er
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