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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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erinnern. Sein rätselhaftes Pech blieb ihm treu. Er wollte ein Modellhäuschen und bekam eine Handvoll Clips. So war das mal wieder. Er ertrug diese Erinnerung nur schlecht. Hätte er doch die ganze Welt wie einen Tisch umstoßen können. Bis zu seinem Termin bei Dr. Troogenbuck hatte er immer noch fast eine Stunde Zeit. Durch die Enttäuschung bei der Bausparkasse glaubte er wieder, keine Grenzen mehr zu haben. Er zerlief und zerfloß und legte sich um die Häuser herum und wartete darauf, daß er sich wieder zusammensetzen konnte. Er stand vor Schaufenstern herum und verlor sich in phantastischen Erwartungen. Im Schaufenster eines Musikgeschäfts war auf einer Plattenhülle das Foto einer russischen Pianistin abgebildet. Die Pianistin hieß Olga, und sie gefiel ihm sehr gut, und er wünschte sich, diese Olga zu treffen, und zwar sofort. Wie schön wäre es, wenn sie ihm nachmittags etwas vorspielte, während er auf einem Sofa lag und sich ausruhte. Er hörte ein weich tönendes Klavier, und die blasse Olga spielte so schön, daß er vor Seligkeit sogar einschlief. Aber warum traf er diese Olga niemals? Er ging weiter und sah den Tauben zu, die auf dem glatten Beton etwas zu fressen suchten. Die Tauben waren so schmutzig, daß Abschaffel glaubte, ihre endgültige Verwandlung in Dreck stehe unmittelbar bevor. Dann stand er vor dem Schaufenster eines Spielwarengeschäfts, in dem eine elektrische Eisenbahn mit vielen Häuschen, Pappbergen und Holzautos aufgebaut war. Eine kleine schwarze Eisenbahn fuhr im Kreis herum, und als er eine Weile zugesehen hatte, fiel ihm ein, daß es offenbar langsam Herbst wurde oder gar schon Winter war. War denn nicht auch bald Weihnachten? Der Gedanke erschreckte ihn, und weil er sich mit Weihnachten nicht beschäftigen wollte, stellte er sich vor das Schaufenster eines Fischgeschäfts. Er betrachtete die Forellen, die in einem kleinen viereckigen Glasbecken umherschwammen. Das heißt, sie schwammen nicht, sondern sie standen dicht über- und nebeneinander im Wasser, bewegten leicht die Seitenflossen und öffneten fortwährend das Maul und schlossen es wieder. Sie warteten darauf, von der schweren Verkäuferin des Fischgeschäfts einzeln mit einem Holzknüppel erschlagen und verkauft zu werden. Abschaffel nahm seine Brille ab und putzte sie. Sollte er sich vielleicht mal eine neue Brille kaufen? An den Einfassungen der Gläser hatten sich Schmutzränder gebildet, die er auch mit dem Fingernagel nicht mehr entfernen konnte. Er setzte die Brille wieder auf und seufzte.
    Kurz vor elf betrat er die Praxis von Dr. Troogenbuck. Abschaffel stellte sich Ärzte immer als alte Männer vor, und als er sah, daß Dr. Troogenbuck ungefähr so alt war wie er selber, war er gekränkt. Deshalb brauchte er eine Weile, um sich mit der Lage abzufinden. Dr. Troogenbuck begrüßte ihn und bat, Platz zu nehmen. Es war ein Drehsessel mit einer tiefen Mulde, in der Abschaffel versank. Der Teppichboden war tiefgrün, die Wände etwas heller. Der Drehsessel stand so, daß Abschaffel Dr. Troogenbuck nicht direkt ins Gesicht sehen mußte. Dr. Troogenbuck hatte hinter einem niedrigen, schweren Schreibtisch Platz genommen und schwieg. Er hantierte mit Papieren herum, die Abschaffel für seine Krankenunterlagen hielt. Er glaubte, vor der Aufgabe zu stehen, glaubwürdig über seine Arbeitsunfähigkeit zu sprechen. Und wahrscheinlich mußte er dabei übertreiben, aber wie? Es brach ihm der Schweiß aus, und er schämte sich. Warum schwieg der Arzt? Abschaffel stieß sich mit dem Fuß ein wenig ab, so daß sein Drehsessel in Bewegung kam. Sie somatisieren, sagte Dr. Troogenbuck leise. Wie? fragte Abschaffel zurück. Sie haben eine schwere Osteoporose, sagte Dr. Troogenbuck, und das ist ein bißchen früh für Sie. Abschaffel schwieg eine Weile und sah auf die gepolsterte Tür. Ich fühle mich sinnlos, sagte er. Gleich fand er diesen Satz fürchterlich übertrieben, und eine Weile glaubte er, überhaupt nichts mehr sagen zu können. Dr. Troogenbuck schwieg. Ich kann nicht mehr arbeiten, verstehen Sie, sagte Abschaffel. Es war ganz still im Zimmer. Abschaffel sah aus dem Fenster und betrachtete den fast kahlen Wipfel eines Baums, der dicht an der Außenwand hochgewachsen war. In den Ästen des Baums hing ein schwerer nasser Lappen, und Abschaffel begann darüber nachzudenken, wie der Lappen auf den Baum gekommen war. Der Lappen sah alt aus und hing offenbar schon mehrere Wochen, vielleicht sogar Monate in den Ästen. Oder

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