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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Abschaffel war allein in seinem Abteil. Eine alte Zeitung, die er im Gepäckfach gefunden hatte, hatte er schon gelesen und wieder nach oben gelegt. Bei jedem Halt hoffte er, daß sich niemand zu ihm in das Abteil setzte. Ohnehin wunderte er sich auf jeder Station über die vielen Menschen, die auf Bahnsteigen standen und entweder selbst zustiegen oder die Ankunft von Angehörigen erwarteten. Weshalb waren denn so viele Personen unterwegs? Änderte sich dadurch etwas in ihrem Leben? Abschaffel beobachtete auf einem Bahnsteig einen Mann mit einem kleinen Imbiß-Wagen. Obwohl der Mann die vielen Arme sah, die nach ihm verlangten, blieb er doch ganz ruhig und bediente die wenigen, für die er Zeit hatte. Der Zug hielt drei oder vier Minuten, und während dieser Zeit wollte Abschaffel so sein wie der Mann mit dem Imbiß-Wagen: es immer gut aushalten können, wenn andere mit ihm unzufrieden waren. Wenig später, als der Zug wieder fuhr, ärgerte er sich über seine Sucht, immer entlastet werden zu wollen. Immer suchte er nach Gelegenheiten und Vorbildern, die ihm helfen konnten, sich mit der eigenen Ungenügsamkeit auf Ewigkeit auszusöhnen. Stöhnend (er stöhnte tatsächlich) lehnte er sich in seinem Platz zurück und sah aus dem Fenster hinaus. Der Zug fuhr gerade an endlos vielen Obstgärten vorbei. Manchmal flatterte ein Rebhuhn in der Nähe der Gleisanlagen auf, aber sonst bewegte sich nichts in der Landschaft.
    Erst später, als er noch knapp eine Stunde zu fahren hatte, dachte er wieder an den Klinikaufenthalt. Er versuchte, sich die Klinik vorzustellen, aber er erinnerte sich statt dessen, wie er als Kind in der Nachkriegszeit von seinen Eltern in Ferien geschickt worden war. Es war ein billiger, von der Arbeiterwohlfahrt organisierter Landaufenthalt im Odenwald gewesen. Mit vierzig oder fünfzig etwa gleichaltrigen Kindern war er vier Wochen lang zusammengewesen, und alle waren in einem großen, ausgeräumten Gasthof untergebracht. Geschlafen wurde auf schmalen amerikanischen Feldbetten, die in vier Reihen von Wand zu Wand aufgestellt waren. Feldbetten hatte das Kind Abschaffel nie zuvor gesehen, und er konnte auch gar nicht glauben, daß man auf diesen Gestellen schlafen konnte. Jeder bekam eines von diesen kleinen harten Armeekopfkissen und eine grüne schwere Wolldecke. Aus Schreck, Verlassenheit oder Angst oder aus allem zusammen machte Abschaffel schon in der ersten Nacht ins Feldbett. Das war für ihn ganz ungewöhnlich, weil er zu Hause niemals ins Bett gemacht hatte. Er erwachte und brauchte mindestens eine halbe Stunde, um reglos die Scham zu überwinden und Vorstellungen zu bilden, wie er sich aus seiner Lage befreien konnte. Er beschloß, leise aus dem Schlafsaal zu schleichen, sein verschmiertes Bettzeug mitzunehmen und es draußen im Hof, wo es einen steinernen Trog mit frischem Wasser gab, zu reinigen. Weil es Hochsommer war, hoffte er, das gewaschene Bettzeug werde noch in der gleichen Nacht trocknen; er selbst wollte so lange neben der Wäsche warten, bis sie wieder in Ordnung war. So war sein Plan. Zuversichtlich wartete er, aufgestützt in seinem Kot sitzend, eine weitere halbe Stunde. Nichts rührte sich; die Kinder schliefen, und manche pfiffen wie Mäuse. Dann stieg er aus seinem Feldbett und raffte das Laken, das Kissen, das Schontuch und die schwere Wolldecke an sich. Er traute sich kaum, sich selbst richtig anzusehen. Rasch huschte er zur Tür, aber er fand sie verschlossen. Natürlich traute er sich nicht, gegen die Tür zu schlagen oder jemanden zu wecken. Warum machte eine geschlossene Tür alles zunichte? Er mußte das verschmierte Bettzeug wieder auf seinem Feldbett ausbreiten und sich selbst hineinlegen. Es ging nur in Stufen. Erst saß er eine Weile auf dem Bettrand, dann aufrecht im Bett, endlich lag er. Die Müdigkeit überwand ihn rasch, und am Morgen, als er die Augen öffnete, feixten sechs oder sieben Jungen um sein Feldbett herum. Zunächst glaubte er, sich in einem der üblichen Alpträume zu befinden, und wollte im Halbschlaf abwarten, bis die Bilder endgültig verschwunden waren. Aber die Bilder zogen sich nicht zurück, und mit zunehmender Wachheit erinnerte er sich, was in der Nacht geschehen war. Er lag scheußlich zugerichtet auf seinem Feldbett und heulte. Endlich erschien eine Betreuerin und verjagte die Kinder. Mit wenigen Anordnungen befreite sie ihn aus seiner Lage. Noch vor dem Frühstück saß er in einer Badewanne, und eine andere Betreuerin hatte sein

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