Abschaffel
tun, als könnte man das, was schon immer da war und sich nie änderte, von Zeit zu Zeit noch einmal staunend verheißen, damit es die anderen ebenso staunend noch einmal anerkannten.
Zu Hause angekommen, blickte sich Abschaffel in seiner Wohnung um. Wie oft würde er noch die Wände sehen und etwas erwarten? Es gelang ihm nicht, die Wohnung als nur ihm geltende, persönliche Verheißung zu erleben. Er überlegte, ob er sich, wieder Reinigungsbesitzer, ein kleines Schild malen sollte. DIESE WOHNUNG GEHÖRT AUCH MORGEN UND ÜBERMORGEN HERRN ABSCHAFFEL könnte er draufschreiben. Amüsiert verwarf er den Einfall. Oder sollte er auf das Schild schreiben: ZUM GLÜCK FÜR HERRN ABSCHAFFEL GEHT IN DIESER WOHNUNG IMMER NUR HERR ABSCHAFFEL UMHER? Er ging in die Küche und holte aus dem Kühlschrank die Milchtüte und goß sich ein Glas Milch ein. Das Glas stand klar und weiß auf dem Tisch, und noch bevor er einen Schluck getrunken hatte, glaubte er, von der Milch gehe eine Gefahr aus. Er starrte das Glas an und die Milch, die ruhig in dem Glas stand, und er war überzeugt, etwas Tückisches, etwas Bösartiges werde geschehen. Er wußte auch schon, was es sei. Ein Stein, ein kleiner schwerer Stein, rundlich und abgeschliffen, vielleicht ein weißer Kiesel, lag auf dem Grund des Glases, und sobald Abschaffel das Glas hob, um daraus zu trinken, würde der Stein, unsichtbar in der Milch, ihm während des Trinkens auf die Vorderzähne fallen und sie beschädigen, vielleicht zertrümmern. Er phantasierte diese Vorstellung durch, und obwohl er von Anfang an wußte, daß es sich um ein Hirngespinst handelte (die Geheimnisse der Wohnung), fürchtete er sich noch immer vor dem Stein in der Milch. Er holte ein zweites Glas und schüttete die Milch durch ein Sieb in das zweite Glas, und mit nicht zu begreifender Erleichterung sah er, daß kein Stein in der Milch war. Er setzte sich auf einen Stuhl und trank die Milch aus dem zweiten Glas.
Falsche Jahre
Doch die Menschen bleiben ferne Bilder
und am Horizont verzischt die große Passion.
Siegfried Kracauer
(aus: Langeweile)
Eine halbe Stunde vor Abfahrt seines Zugs war Abschaffel schon am Bahnhof. Er fühlte sich ein wenig unbehaglich, weil er annahm, jedermann könne ihm ansehen, daß er eine Kur antrat. Er stand still neben seinem Koffer und sah einem Bahnhofskehrer zu. Der Mann hatte sich das Ende des Besenstiels in Bauchhöhe in den Leib gestemmt und lief so, den Lauf des Besens mit dem Körper steuernd, durch die Halle. Hunderte und Aberhunderte von Menschen liefen unablässig vor und hinter ihm her, und immerzu wurden neue Papierreste und andere Abfälle auf den Boden der Bahnhofshalle geworfen. Welch ein Zutrauen in den Sinn seiner Arbeit mußte dieser Bahnhofskehrer haben! Abschaffel beobachtete ihn bewundernd. Der Kehrer sah selbst, daß unablässig Abfälle auf den Boden geworfen wurden, und zwar genau dorthin, wo er gerade gekehrt hatte. Abschaffel wünschte sich, eines Tages ebenso souverän leben zu können wie dieser Bahnhofskehrer. Erst als er im Zug saß und immer noch an den Kehrer dachte, fiel ihm ein, daß er vielleicht überhaupt nicht souverän, sondern nur gleichgültig gewesen war. Vielleicht war er sogar der gleichgültigste Mensch der Welt, denn wie sonst, überlegte Abschaffel, sollte er es fertigbringen, ohne Hoffnung auf Erfolg arbeiten zu können? Er führte nur kehrende Bewegungen aus, weil er dafür bezahlt wurde, und alles andere war ihm gleich. Auch er arbeitete schon seit vielen Jahren, und auch er fragte schon lange nicht mehr danach, ob die Summe seiner Arbeit für ihn einen persönlichen Sinn ergab oder nicht. Er tat die Arbeit einfach, genau wie der Kehrer.
Es störte ihn, daß er in der Lage war, solche Gedanken zu entwickeln. Immer hatte er dann das Gefühl, durch solche Gedanken wandle sich das Leben ganz rasch in etwas Unseriöses um. In den Jahren zuvor hatte er immerhin jederzeit die Überzeugung gehabt, allein die Unübersehbarkeit des noch prächtig vor ihm liegenden Lebens sei eine Art Garantie für einen guten Sinn. Dieses Gefühl war ihm verlorengegangen. Nun meinte er, sein Leben sei lediglich ein Restbestand von etwas Größerem, aus dem vor vielen Jahren leider nichts gemacht worden war. Was dieses Größere gewesen sein sollte, konnte er sich allerdings nicht vorstellen. Er hatte immer nur den Eindruck, ein Rest zu sein, und wer ein Rest war, mußte notwendig von etwas Größerem übriggeblieben sein.
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