Abschaffel
Feldbett mit frischer Wäsche überzogen.
Erst kurz vor der Ankunft bemerkte er, daß er die Möglichkeit, auch hier in einem ähnlichen Schlafsaal und noch immer auf amerikanischen Feldbetten übernachten zu müssen, nicht ganz ausgeschlossen hatte. Alle seine Befürchtungen lösten sich beim Anblick der Klinik rasch auf. Eine Schwester zeigte ihm sein Zimmer und fragte ihn, ob er etwas trinken oder essen wolle, und er verneinte. Sie erklärte ihm die Räumlichkeiten und bat ihn, am nächsten Morgen um neun Uhr, noch vor dem Frühstück, im Sprechzimmer von Dr. Haak zu erscheinen. Danach, um zehn Uhr, solle er sich bei Dr. Buddenberg melden.
Die Klinik gliederte sich in mehrere, ihm noch unübersichtliche Gebäudetrakte. Beherrschend war ein massiver, achtstöckiger Bau, in dem etwa zweihundert Patienten, die meisten von ihnen in Einzelzimmern, untergebracht waren. Die Zimmer der Vorderseite hatten kleine Balkons, die der Hinterseite nicht. Das Erdgeschoß war zu einem weiten, hellen Aufenthaltsraum ausgebaut. In den weichen Kunstledersesseln saßen fast immer Patienten oder deren Angehörige, die von weither angereist waren. Die Patienten der Vorderseite konnten links auf die braunroten Dächer der breiten Bauernhäuser hinabsehen; rechts war ein weites Tal mit einer Flußebene und einer weitab liegenden Fernstraße. Die Patienten der hinteren Seite sahen in die andere, sich verengende Hälfte des Tals und auf ein paar vereinzelt stehende Bauernhöfe. Der ganze Klinikkomplex war an einen Waldrand angebaut. Eine schmale, betonierte Straße führte von hier aus direkt in den Wald und löste sich nach fünfhundert Metern in eine Vielzahl von Wander- und Spazierwegen auf. Gewöhnlich gingen hier Patienten einzeln oder in Gruppen umher, wenn sie Zerstreuung oder Beruhigung suchten.
Dr. Haak war ein ruhiger, freundlicher Arzt, und die Untersuchung bei ihm glich derjenigen, die Abschaffel schon von Dr. Schmücker in Frankfurt kennengelernt hatte. Dr. Haak stellte ein umfassendes Bewegungsmangelsyndrom fest. Die Körperbewegungen des modernen Menschen sind einförmig und auch bei körperlicher Arbeit nicht ausreichend, um den Rücken mit seinen vielen Bewegungsmöglichkeiten in guter Kondition zu halten, sagte Dr. Haak. Abschaffel hörte kaum hin, weil er ein noch ganz unbenutztes, steifgefaltetes Handtuch bewunderte, das neben dem Waschbecken hing. Es war so weiß und ungebraucht, daß es aussah wie gefroren. Er überlegte eine Weile, ob er es darauf anlegen sollte, sich am Ende der Untersuchung unter einem Vorwand die Hände zu waschen und dann das Handtuch erstmals zu verkrumpeln. Aber er fand keinen Vorwand, und er ging wieder dazu über, Dr. Haak zuzuhören. Das beste ist, wenn Sie mich fragen, Sie nehmen an einer Bewegungstherapie teil, sagte der Arzt; Sie machen zuerst eine leichte Entspannungsbehandlung, und später gehen wir über zum Terraintraining. Dr. Haak schwieg eine Weile und machte sich Notizen. Abschaffel überlegte, ob er etwas fragen sollte; er beobachtete das rötliche, glattrasierte Gesicht des Arztes und die langsamen, vorsichtigen Bewegungen, mit denen er die Verschlußkappe seines offenbar teuren Kugelschreibers aufschraubte. Ich überlege, sagte Dr. Haak, ob es nicht vorteilhaft wäre, wenn Sie zusätzlich in eine Diätgruppe gehen, Sie haben Übergewicht. Was geschieht in der Diätgruppe? fragte Abschaffel. Sie bekommen mit anderen Patienten zusammen kaloriengemäße Mahlzeiten, sagte Dr. Haak. Ja, gut, mache ich, sagte Abschaffel, und er versuchte, seiner Zustimmung einen leichten, lockeren Ton zu geben. Dr. Haak war dankbar und griff diesen Ton sofort auf. In ein paar Wochen sind sie wieder auf dem Damm, sagte er freundlich.
Der Stationsarzt Dr. Buddenberg, bei dem sich Abschaffel um zehn Uhr vorstellte, war ein verschlossener, ein wenig mühsam sprechender Psychotherapeut. Er war etwa vierzig Jahre alt, trug einen Oberlippen- und Kinnbart und hatte eine Glatze. Er saß ohne Arztkittel auf der Station. Über einem karierten Hemd trug er eine graue, einfältige Weste, die Abschaffel sofort lächerlich fand. Sie erinnerte ihn an die ewig grauen, bestenfalls stahlblauen Westen seines Vaters. Die Weste von Dr. Buddenberg hatte genau denselben V-Ausschnitt wie die Westen des Vaters, außerdem genau dieselben gelbbraunen Knorpelknöpfe. Solche Westen gehörten zu den wiederkehrenden Weihnachtsgeschenken für Abschaffels Vater. Die Mutter wählte, wenn es etwas zu schenken gab, zwischen fünf
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