Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
Vom Netzwerk:
jeden Morgen das Hosenbein hoch und steckte es oben zusammen? Oder war das Hosenbein gar nicht hochgewickelt, sondern oben abgeschnitten und zu einem Umschlag vernäht? Wieviel Hosen hatte der Mann überhaupt? Abschaffel wartete, bis die Frau, die ihm Spielwaren hochreichte, wieder sichtbar wurde, weil er feststellen wollte, ob sie seine Frau oder eher seine Tochter war. Aber da verließ ihn das Interesse an diesen Dingen, und er wandte sich von dem Fenster ab und ging in Richtung Post. Er fror. In der Schalterhalle der Post würde er sich ein wenig aufwärmen können. Natürlich war wieder einer der beiden Kniestrümpfe nach unten gerutscht, oder gar beide? Seit seiner Kindheit kämpfte er im Winter gegen ewig herunterrutschende Kniestrümpfe. Natürlich, der rechte Strumpf hatte sich an der Fessel zu einem Wulst um den Fuß gedreht, und Abschaffel zog den Strumpf wieder hoch. Eine Zeitlang hatte er als Kind in der Nachkriegszeit sogenannte Leibchen getragen, die um den Unterleib gebunden wurden und an jeder Seite zwei Strapse hatten, an denen die beinlangen braunen Strümpfe befestigt wurden. Ein Streifen nackten Fleischs blieb oben immer frei. Oft rann beim Pinkeln ein wenig Wasser die Beine hinab, und die Haut wurde wund und grindig. Er haßte seine Leibchen, und er genierte sich, wenn sie ihm morgens von der Mutter angelegt wurden. Es störte ihn die unbegreifliche Ähnlichkeit seiner Leibchen mit den viel größeren, rosafarbenen Hüftgürteln der Mutter, die er nicht anfassen konnte. Überhaupt ekelte er sich vor der Unterwäsche der Mutter; als sie eines Tages seinen Ekel bemerkte, ging sie dazu über, mit ihrer Unterwäsche spaßhaft nach ihm zu werfen. Sie glaubte, seinen Ekel dadurch umwandeln zu können. Besonders ihre Strümpfe wickelte sie zu Knäueln zusammen und warf sie ihm überraschend ins Gesicht, wenn er nachmittags am Tisch im Wohnzimmer saß und versuchte, Schulaufgaben zu machen. Er zuckte zusammen, und über seinen Schreck mußte sie hell und kurz kichern. Auch die nach ihm geworfenen Strumpfknäuel rührte er nicht an, wenn sie auf seinen Heften lagen, sondern streifte sie mit dem Lineal vom Tisch herunter.
    Kurz bevor er die Post erreichte, entdeckte er im Schaufenster eines kleinen Schreibwarengeschäfts eine Serie bunter Postkarten. Er betrat das Geschäft, und im Laden sah er noch schönere Postkarten, Winterbilder mit weiß eingedickten Häusern und unübersehbaren Schneeweiten. Er kaufte fünf dieser Schneebilder, und als er den Laden verließ, bemerkte er, daß er bereits erwartet hatte, den Schnee auf den Postkarten schon draußen auf der Straße zu finden. Aber es war nur kalt und trocken. Die kleine Schalterhalle der Post war überheizt. Es gab zwei Schalter und eine kleine Paketluke. Die Beamten waren dick und langsam, und es sah quälend aus, wenn sie ihre schweren Körper auf ihren Drehstühlen nur um wenige Zentimeter drehten. Am linken Schalter warteten drei kleine, bäuerliche Frauen, und Abschaffel stellte sich zu ihnen. Der Postbeamte behielt die Briefe, die ihm gereicht wurden, bei sich und klebte die Briefmarken selbst auf. Er ließ jede Briefmarke über ein kleines Schwämmchen rutschen, das in einem Gumminapf eingesenkt war. Es war deutlich zu sehen, daß er die Briefmarken zwar rasch (die Geschwindigkeit in seinen Fingern verwies erneut auf die sackhafte Ruhe seines übrigen Körpers), aber nachlässig benetzte. Genaugenommen wischte er die Unterseiten der Marken nur oberflächlich über den Schwamm. Im selben Augenblick, als Abschaffel den Beamten der Unordentlichkeit verdächtigen wollte, überfiel ihn auch schon das Mitleid. Wie demütigend mußte es sein, Jahr für Jahr und Tag für Tag immer wieder Briefmarken über einen kleinen Schwamm rutschen zu lassen! Abschaffel erinnerte sich, daß er, als er Kind war, einmal eine Spielpost hatte, eine Kinderpost mit kleinen Zahlkarten, Überweisungen und Briefmarken drin. Das Benetzen und Ablecken von Briefmarken paßte vielleicht wirklich nur zu Kindern, und wer, wie diese beiden Landbeamten, auch noch als Erwachsener zum Nässen von Briefmarken gezwungen war, mußte eigentlich öffentlich bedauert werden. Aber vielleicht machten sie es auch gerne. Die Sorgfalt, die sie für jede Briefmarke aufwendeten, war erstaunlich und fremd. Und die Frauen sahen dem Mann bedächtig zu, wie er noch mit dem Handballen die Ecke der Briefmarken nachdrückte.
    Erst als Abschaffel seine fünf Briefmarken in der Hand hielt, wurde ihm klar,

Weitere Kostenlose Bücher