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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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möglichen Hauptgeschenken aus: Schlafanzug, Nachthemd, Oberhemd, lange Unterhosen oder eben Westen. Zu je einem Hauptgeschenk gab es wahlweise ein Nebengeschenk: Krawatte, ein paar Socken, Handschuhe, Unterhemd oder Manschettenknöpfe. Als Abschaffel zu einem jungen Mann herangewachsen war, wandte die Mutter auch auf ihn ihr Geschenksystem an. Der Vater schien mit ihrer Geschenkordnung schon immer einverstanden gewesen zu sein. Abschaffel bemerkte die Ordnung erst, als sie auch für ihn galt, aber sonderbarerweise wehrte er sich nicht gegen sie. Am liebsten hätte er nun Dr. Buddenberg gefragt, ob nun auch er solche Westen von seiner Mutter geschenkt bekam. Dr. Buddenberg hob sanft das Gesicht, als Abschaffel vor ihm stand, und stellte sich vor. Ich bin Ihr Stationsarzt, an mich können Sie sich wenden, sagte er; waren Sie schon bei Dr. Haak? Ja, sagte Abschaffel. Hat er Ihnen nichts mitgegeben? Nein, nichts. Na schön, sagte Dr. Buddenberg.
    Der Therapeut nahm Abschaffel mit in die Stationsgruppe III zur Gruppentherapie. Er genierte sich, als er von Dr. Buddenberg vorgestellt wurde und im Kreis von Patienten Platz nahm. Dreimal wöchentlich sollte er mit den Patienten seiner Station bei der Gruppentherapie zusammenkommen. In der ersten Woche konnte er kein Wort herausbringen. Er saß nur da und betrachtete die anderen, nahm Anstoß an ihrer Bekleidung, an ihren Gesichtern und ihren Bewegungen. Dr. Buddenberg saß dabei und sagte wenig. Er achtete darauf, was die anderen sagten, und ließ sich anmerken, daß er nachdachte über alles, was er von den Patienten hörte. Beim drittenmal fühlte sich Abschaffel so sehr von seinem Schweigen gestört, daß er glaubte, Dr. Buddenberg sein künftiges Nichterscheinen ankündigen zu müssen. Andere Patienten schwiegen zwar auch, aber sie schienen es mit größerem Recht zu tun. Die anderen waren schon länger in der Klinik, sie hatten sicher schon viel mitgeteilt, und ihr spätes Schweigen schien etwas Überlegtes zu sein, wohingegen es bei Abschaffel offensichtlich nur bloße Verlegenheit war. Er traute sich noch nicht einmal, aus dem Fenster zu sehen. Er blickte auf den Boden und überlegte, was er den anderen sagen konnte, und darüber verging die Stunde. Manchmal war es wie in der Mittagspause bei Ajax. Dann verspürte er Lust, den einen oder anderen Patienten wegen ihres unsinnigen Geredes zurechtzuweisen. Schon kurz danach machte er sich Vorwürfe, daß es ihm nicht zustand, jemanden seiner Mitteilungen wegen zu verurteilen, schon gar nicht in der Klinik. In der Gruppentherapie durfte jeder alles sagen, wenn er es sich traute. Tatsächlich redeten die anderen, sie erzählten von ihren Vätern und Müttern, von ihren Frauen und Männern und Kindern. Ein Mann in Abschaffels Alter erzählte, daß sich seine Mutter, wenn sie mit seinem Vater geschlafen hatte, jedesmal in der Küche über einen Bottich mit warmem Wasser setzte, sich einen Schlauch in die Scheide einführte und sich auswusch, und dies vor den Augen seines Vaters und häufig auch vor den seinen, des Patienten Augen. Abschaffel hörte zu, staunte, schwieg und blieb der Gruppentherapie dann fern, weil er glaubte, hier niemals sprechen zu können.
    Nachmittags ging er gewöhnlich in das Dorf hinunter. Der Fußweg von der Klinik zum Marktplatz nahm wenig mehr als zehn Minuten in Anspruch. Häufig fiel Abschaffel erst auf der Hälfte des Weges ein, daß er sich nicht zu beeilen brauchte. Das Dorf war still und klein. Es ereignete sich kaum etwas, wobei man hätte zuschauen können. Ältere Frauen, Fahrräder haltend, standen paarweise am Straßenrand und erzählten sich etwas mit zischenden Stimmen. Abschaffel lief beobachtend umher, als müßte er einen Fehler finden. Rasch ging er dazu über, in fast allen anderen Menschen ebenfalls Patienten zu sehen, und im stillen rätselte er über ihre heimlichen Krankheiten. Im Schaufenster eines Spielwarengeschäfts sah er einen beinamputierten Mann, der das Schaufenster neu dekorierte. Seine Krücken waren von innen gegen die Scheiben gelehnt, und der Mann hielt sich an der hinteren Holzeinfassung des Schaufensters fest. Er befestigte an der Hinterwand große, fleischfarbene Puppen, die ihm von einer Frau hochgereicht wurden. Abschaffel sah dem Mann auf den Beinstumpf. Am meisten interessierte ihn die Hose des Mannes, die den Stumpf hinaufgewickelt war, und Abschaffel fragte sich, wie der Mann mit diesen Umständen jeden Tag zurechtkam. Wickelte ihm vielleicht seine Frau

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