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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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sich ein Paar. Aus Spaß zog er sie auf dem Heimweg gleich an, und während des Gehens wünschte er sich, daß es zu jedem Paar Handschuhe noch ein drittes Exemplar geben müßte: zwei zum Anziehen und einen dritten zum Spielen. Er vergnügte sich an diesem Einfall, und er baute ihn weiter aus. Ein dritter Handschuh wäre auch dann gut, wenn einer der beiden richtigen Handschuhe verlorenginge, überlegte er. Allerdings wäre dann, wenn ein Handschuh verloren war, unklar, ob der dritte Handschuh mit dem noch übriggebliebenen ein neues Paar ergab. Noch besser wäre es natürlich, überlegte er, wenn jeder ständig ein Paar Ersatzhandschuhe bei sich hätte. Erst an dieser Stelle konnte Abschaffel alles, was er in den letzten fünf Minuten über Handschuhe gedacht hatte, als arglosen Unsinn erkennen, und er vergaß ihn sofort, ohne sich böse zu sein. Diese Art der Alleinunterhaltung gefiel ihm gut. Meistens hatte er solche Einfälle in der Stunde zwischen Feierabend und der Ankunft in der Wohnung, die er noch immer hinauszögerte. In der Regel fühlte er sich sofort schlechter, wenn er in der Wohnung war. Er war zunehmend der Überzeugung, daß er seine Wohnung eigentlich nicht mehr verstand. Er bemerkte es an unerklärlichen Ängstlichkeiten, die er als Übergriffe der Wohnung auf sich empfand. Erst vor Tagen, beim Betreten der Badewanne, als er sich duschen wollte, war er wieder von einer solchen Ängstlichkeit überfallen worden. Er blickte auf den leicht gerundeten Boden der Badewanne, wie er es immer getan hatte, ohne daß er je besondere Gedanken dabei gehabt hätte, aber vor Tagen drängte sich ihm plötzlich mit unabweisbarer Dringlichkeit die Idee auf, daß er endlich eine Gummimatte mit Saugnäpfen kaufen müsse, die er auf dem Boden der Wanne ausbreitete, damit er niemals ausrutschte. Er war überzeugt, daß er am nächsten Tag eine solche Matte kaufen mußte. Zum Glück war am nächsten Tag wieder alles ganz anders. Er hatte die Gummimatte nicht angeschafft, und seither war die Angst, er könne in der Wanne ausrutschen, auch nicht wieder aufgetreten. Was aber zurückblieb, war eine weitere Körperverdächtigung. Neuerdings konnte sich der Körper offenbar alles erlauben. Ohne jede Vorankündigung, wann immer es ihm gefiel, durfte er die Person Abschaffel erschrecken und einschüchtern. Und er hatte nichts in der Hand, womit er dem Körper hätte zusetzen können. Zwei Tage nach seiner Badewannenangst erhielt er die Nachricht, daß ihm eine sechswöchige Heilbehandlung in einer Klinik bewilligt worden war. Im neuen Jahr, in der ersten Januarwoche, sollte sie beginnen. Der Mitteilung waren eine Menge Formulare und Fragebogen beigegeben, die er auszufüllen und zurückzuschicken hatte. Auf einem bunten Prospekt war die Klinik sogar abgebildet. Es war ein kastenförmiger Bau mit acht Stockwerken. Rings um die Klinik waren Parkplätze und Grünanlagen zu sehen, im Hintergrund dunkelgrüne Berge.
    Die Nachricht beruhigte ihn tagelang. Er teilte Frau Morlock den Termin mit, ebenso Ronselt. Weil Ronselt es peinlich war, über Krankheiten sprechen zu müssen, tat er so, als hätte sich Abschaffel nur einen zusätzlichen Winterurlaub erschlichen. Abschaffel ging auf das Spiel ein, und nach einer Weile wußte keiner von beiden mehr, warum sie sich so sehr verstellen mußten. Später, nach Feierabend, kaufte sich Abschaffel fünf Paar Socken. Er brauchte die Socken nicht, aber er wollte unbedingt etwas Weiches in der Hand halten. Er warf die Papiertüte weg und faßte den zusammengebündelten Wollballen mit der bloßen Hand. Er überlegte, wie er diesmal seine Heimkehr verzögern konnte, und weil ihm nichts Besonderes einfiel, machte er lediglich Umwege und blieb vor Geschäften stehen. Lange sah er in die Schaufenster einer chemischen Reinigung in der Nähe seiner Wohnung. Es hielten sich keine Kunden darin auf, und auch Personal war nicht zu sehen. Statt dessen war die Inneneinrichtung zum Teil ausgeräumt, zum Teil in der Mitte des Verkaufsraums zusammengerückt, und drei verstaubte Arbeiter rissen Tapeten herunter und entfernten Steckdosen und Bodenleisten. Abschaffel sah den Arbeitern zu, weil er glaubte, diese Veränderungen gingen ihn etwas an. Natürlich gingen sie ihn nichts an, es handelte sich lediglich darum, daß der Innenraum einer chemischen Reinigung renoviert wurde. Die Reinigung ist unrentabel geworden, überlegte er; natürlich, es gab inzwischen zu viele Reinigungen, es war überhaupt erstaunlich,

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