Abschaffel
war sogar ein unwirklicher Pferdeschlitten abgebildet, aus dem noch unwirklichere Leute herauswinkten.
In der Umgebung der Klinik war kein Mensch zu sehen. Nur die Vögel flatterten aufgeregt hin und her, und manchmal gelang es ihnen, durch heftigen Abflug von einem Ast ein wenig Schnee herunterzuschütteln. Abschaffel klebte der Schweiß auf der Stirn. Er hatte sich erkältet vor zwei oder drei Tagen. Er holte sich eine Wolldecke und schlug sie sich über die Schultern. Außerdem zog er seine Strümpfe an. Es war schön, im Schlafanzug, ein wenig verschwitzt, aber doch warm am Fenster zu sitzen. Er stellte sich ein Glas Wasser auf die Fensterbank und sah in den Schnee. Es fiel ihm eine Wintergewohnheit des Vaters ein. Der Vater saß an Sonntagnachmittagen fast regelmäßig vor dem Fernsehapparat und folgte der Übertragung von irgendwelchen Slalomrennen aus fernen Wintersportstädten. Eine Stunde oder mehr saß er dicht vor dem Apparat und sah immer wieder dem Verlauf von dunklen Punkten zu. Die Punkte waren die einzelnen Skifahrer, die langsam die Strecke und den Bildschirm nach unten glitten. Für ein paar Augenblicke, meistens am Start, weil dort eine zweite Kamera aufgebaut war, war jeder Skifahrer aus der Nähe zu sehen gewesen. Dann folgte wieder die weite Einstellung mit dem gleitenden Punkt auf der weißen Fläche des Bildschirms. Der Sprecher, fast immer war es Heinz Maegerlein, nannte zu jedem neu auftauchenden Punkt den Namen des entsprechenden Skifahrers, erwähnte frühere Rennzeiten und diese oder jene Einzelheit aus dem Leben der Rennfahrer. Die Mutter lag während dieser fürchterlichen Übertragungen meistens im Bett und schlief. Er, das Kind Abschaffel, lief in der Stadt herum und übte das Verlassen der Eltern, das so schwer in den Körper hineinwollte. Oder er verhockte den Nachmittag im Kino: mit dem Geld der Mutter. Jetzt kam Abschaffel die Idee, daß der Vater damals verzweifelt war, denn anders war es nicht zu erklären, daß ein gesunder Mensch mehr als eine Stunde lang an so vielen Sonntagnachmittagen immer wieder demselben Nichtgeschehen zusah. Aber der Vater hatte wahrscheinlich nicht gewußt, daß er verzweifelt sein durfte, daß er auch wirklich hätte verzweifeln können vor der ganzen Familie und nicht immer bloß in sich selbst und für sich allein. Statt dessen hat er sich diese Übertragungen angesehen, dachte Abschaffel, und das war für ihn die einzige Möglichkeit, seine Verzweiflung sowohl auszuhalten als auch nicht zu bemerken. Am Abend saß dann die Mutter auf demselben Stuhl vor dem Fernsehapparat, und der Vater lag im Bett. Denn am Abend wurden oft irgendwelche Europa- oder Weltmeisterschaften im Eiskunstlaufen übertragen, und daran war der Vater nicht interessiert. Während er im Nebenzimmer wegschnarchte, rühmte ein Sprecher im Fernsehapparat die farbenprächtigen Kleider der Schlittschuhläuferinnen. Denn damals gab es noch kein Farbfernsehen; besonders Heinz Maegerlein – er war am Abend schon wieder da – erging sich in endlosen Schilderungen der Farben der Überröcke. Das schien der Mutter so zu gefallen, daß sie vor dem laufenden Apparat bald einschlief und von ihren Kindern später ebenfalls ins Bett geschickt werden mußte.
In einer merkwürdig erregten Stimmung wandte sich Abschaffel von seinem Fenster ab und begann sich anzuziehen. War das Fenster nur eine Art Fernsehapparat gewesen, in dem ein kurzer Film über das Leben der Eltern abgelaufen war? In Strümpfen und Unterwäsche lief er eine Weile in seinem Zimmer umher und überlegte, ob er vielleicht bald sterben müsse. Er wollte keine alten Gedächtnisfilme über seine Eltern mehr sehen. Natürlich war er dem Gedanken an das Sterben nicht gewachsen, und er hörte rasch wieder auf, über den Tod nachdenken zu wollen. Vielleicht hatte er lediglich das Bedürfnis verspürt, sich künftig totstellen zu wollen, wenn erneut diese alten Erinnerungen abgespult werden sollten. Zum Glück war sein Zimmer freundlich und warm. Er stellte sich vor das Waschbecken und begann sich zu rasieren. Da erinnerte er sich an einen widerlichen Traum: Eine ältere Frau, die er nicht kannte, wollte mit ihm verkehren. Sie drängte sich offensiv an ihn heran und griff ihm an das Geschlecht. Er ging auf ihr Drängen ein, wenn auch widerwillig und ängstlich. Als sie zusammen im Bett lagen, sagte sie zu ihm, er könne nicht bei ihr unten reingehen, denn dort sei sie operiert. Sie empfahl Mundverkehr. Abschaffel erinnerte nicht den
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