Abschaffel
Angestellter aus Göttingen, ein blonder Mann mit blonden Wimpern und rotem Gesicht, teilte öfter unglaubwürdige Veränderungen über sich selbst mit. Mit seiner schweren Zunge schob er fast unablässig einen Zahnstocher vom linken Mundwinkel hinüber zum rechten und wieder zurück und redete dabei.
Zu Beginn der vierten Woche, als Abschaffel mit dem Terraintraining begann, hatte sich eine jüngere Patientin in der Nacht und außerhalb der Klinik umgebracht. Am Morgen fehlte sie im Frühstücksraum. Sie hatte schon öfter gefehlt, weil das Verschwinden und das Wiederkommen innerhalb ihres Leidens eine wichtige Äußerung war. Noch während des Frühstücks war bekannt geworden, daß sie aus dem Leben geschieden war. Ihr Leben war bis dahin in zwei abwechselnden Strömungen verlaufen. Nach einer Phase der Geborgenheit war immer eine Phase der selbstinszenierten Verstoßung gefolgt. In der Klinik hatte sie es ein paar Wochen lang gut ausgehalten, es hatte ihr gefallen und sie hatte an Veranstaltungen und Gesprächen teilgenommen. Dann begann die Phase der Verstoßung. Sie fühlte sich unbehaglich, sie erschien unpünktlich zu Besprechungen oder gar nicht mehr, und eines Tages blieb sie ganz weg. Von auswärts (niemand wußte, wo sie war) rief sie ihren Analytiker an und drohte mit Selbstmord. Noch einmal kam sie zurück: Sie ließ sich von der Polizei aufgreifen und in die Klinik zurückbringen. Als sie wieder mit dem Analytiker zusammentraf, erwartete sie, von ihm der Klinik verwiesen zu werden. Der Analytiker tat, als ahnte er nicht, was sie von ihm wollte, und schickte sie nicht nach Hause. Nach ein paar Tagen hatte sie dem Analytiker erklärt, ihre Firma in Dortmund hätte sie entlassen. Sie hatte es fertiggebracht, wenn schon nicht aus der Klinik, dann wenigstens aus der Firma herauszufliegen. Das war das letzte, was von ihr bekannt wurde. Wieder ein paar Tage später war sie tot. Es gab Probleme, die nur durch den Tod beendet werden konnten. Niemand war in der Lage gewesen, das Problem dieser Patientin in einer ihrem Leiden angemessenen Frist zu beenden. In der Klinik war nur das System ihrer Zustände bekannt geworden, ihr Rhythmus zwischen Geborgenheit und Verstoßung.
Diese Geschichte war der Gesprächsstoff an diesem Morgen. Zum Glück hatte jeder Patient die Möglichkeit, sich für viel harmloser zu halten, was für die meisten sogar stimmte. Kaum jemand hatte die Neigung der toten Patientin aus Dortmund, das eigene Leben so intensiv unter die Signale einer Krankheit zu stellen. Der blonde Patient aus Göttingen nahm den Zahnstocher ausnahmsweise aus dem Mund (es war, als wollte er damit der Toten gedenken) und sagte: Die hat ihre Krankheiten ja angestrebt. Sie war auch nie in der Gruppentherapie, kein einziges Mal, sagte eine ältere, rothaarige Patientin, die Abschaffel nicht leiden konnte. Sie war eine nur schwer erträgliche Vielschwätzerin, eine alleinstehende Sekretärin aus Wuppertal, die den Genuß ihres Lebens in Reisen, teuren Kleidern und gutem Essen suchte. Sie wußte, daß es in Deutschland nur zwei thailändische Restaurants gab, eines in Hamburg und eines in München, in denen sie selbst natürlich schon gewesen war. Sie war auch in Amerika gewesen, und was ihr in New York besonders gut gefallen hatte, war der harte Strahl der Duschen in den Hotelzimmern in Manhattan. Mit solchen Einzelheiten erschreckte sie die Mehrzahl der Patienten, weil kaum jemand seine Lebensgefühle aus solchen Erlebnissen bezog. Die Wuppertaler Sekretärin schien auch nicht zu bemerken, daß sie nicht richtig ankam mit ihren Geschichten. Sie reckte ihren kantigen Kopf nach oben und erzählte eine neue Reiseerinnerung. Es war kaum ein größerer Gegensatz denkbar zwischen der nun toten Angestellten aus Dortmund und dieser immerzu auftrumpfenden Sekretärin. Abschaffel hatte Lust, sie zu bestrafen. Ein magersüchtiges Fräulein, eine Musiklehrerin aus Heidelberg, sagte: Na und? Es hat doch nichts zu sagen, ob jemand in der Gesprächstherapie ist oder nicht, Herr Abschaffel war ja auch nur einmal dabei, oder? Die Musiklehrerin sah ihn an und wartete wohl auf eine Antwort. Die Wuppertaler Sekretärin pflichtete der Musiklehrerin bei und fragte noch direkter: Warum kommen Sie eigentlich nicht mehr, Herr Abschaffel? Er wußte überhaupt nichts zu antworten, und aus lauter Verlegenheit sagte er die Wahrheit: Ich habe keine Lust, mir die Geschichten anderer Patienten anzuhören. Und weil in dieser Antwort eine gewisse
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