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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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jungen Mädchen, das nach vorn an die Kasse gekommen war. Als sie draußen waren, wurde das Licht im hinteren Teil des Ladens wieder ausgeschaltet. Langweilst du dich? fragte Dagmar. Ja, sagte er. Ist es schlimm? Nein, sagte er, es ist mir im Grunde angenehm; es ist mir jedenfalls viel angenehmer, als wenn ich die Welt und mich selber darin allzusehr spüre. Dann lebe ich ständig in einer Art von erregtem Widerstand. Widerstand gegen mein Leben, gegen meine Arbeit, gegen die Wohnung, gegen mich, gegen alles, und das ist sehr anstrengend, sagte er. Dagmar schwieg. Vor lauter Anstrengung und Widerstand verliere ich dann sogar die Mimik, sagte er, und ich habe das Gefühl, ein Stück Holz geworden zu sein. Möchtest du allein weitergehen? fragte sie. Bleib nur, sagte er. Willst du mit in das Schuhgeschäft? Ja, sagte er.

Ein älterer Mann und eine ältere Frau sahen gleichzeitig auf, als Dagmar und Abschaffel das Schuhgeschäft betraten. Der Mann saß auf dem Boden zu Füßen einer Nonne, die ein paar schwarze Schuhe anprobierte. Die Nonne war schwer und alt, und sie bedeckte den Stuhl, auf dem sie saß, ganz und gar mit ihren schwarzen Tüchern und Umhängen. Die Frau wandte sich Dagmar zu, die sich auf einen der Holzstühle gesetzt hatte. Ich möchte ein paar wasserdichte Halbschuhe, sagte sie und errötete. Abschaffel betrachtete das gelbe, harte Gesicht der Nonne. Die Frau holte ein paar Schuhschachteln und breitete sie in der Nähe von Dagmars Stuhl aus. Die Schachteln hatten stark abgestoßene Kanten und Deckel. Offenbar waren viele Schuhe schon einmal anprobiert, dann aber doch nicht gekauft worden. Die Nonne bemerkte nicht, daß sie von Abschaffel beobachtet wurde; sie hatte die Beine ein wenig auseinandergestellt, weil sie die Innenseiten der Schuhe betrachten wollte, die ihr der Mann mit einem langen Schuhlöffel angezogen hatte. Abschaffel versuchte, der Nonne unter den Rock zu sehen oder wenigstens die Strümpfe hinauf, aber alles, was er sah, war eine wollene schwarze Endlosigkeit, in der sich nichts voneinander unterscheiden ließ. Alles war wie verstopft von schwarzen Tüchern, Bändern, Bendeln und Röcken. Die Nonne erhob sich und ruckelte im Stehen ein wenig in den neuen Schuhen umher, aber anscheinend war sie nicht zufrieden. Wieder sank sie auf den Stuhl und ließ sich die Schuhe ausziehen. Dagmar schien sich für ein paar Halbschuhe entschlossen zu haben. Tatsächlich sahen sie ein wenig aus wie Schuhe einer braven Gemeindeschwester, die viel unterwegs war, um Gutes zu tun. Es waren einfache braune Schnürschuhe, breit und rund, fast ein wenig klobig. Abschaffel riet ihr, diese Schuhe zu kaufen, weil er wieder die Nonne betrachten wollte. Er hatte sie inzwischen im Verdacht, daß es ihr Spaß machte, immerzu die Schuhe zu wechseln. Oder an den Füßen angefaßt zu werden. Aber da hatte sich Dagmar endgültig für die braunen Schnürschuhe entschlossen. Die Nonne stand schon wieder in ein paar neuen schwarzen Schuhen und sah schmerzbereit an die niedrige Decke des Schuhgeschäfts. Dagmar zahlte, und Abschaffel hielt ihr die Tür auf.
    Sie schlugen den Weg zurück zur Klinik ein. Eine dicke Bäuerin fuhr auf einem Fahrrad langsam an ihnen vorbei. Erst als die Bäuerin von hinten zu sehen war, wurde auch das Kind sichtbar, das auf dem Gepäckträger saß und sich mit weit ausgestreckten Armen an den Hüften der Frau hielt. Das Kind drückte das Gesicht gegen den Mantel der Frau wie gegen eine Mauer. Abschaffel ärgerte sich, weil er immerzu etwas beobachten mußte. Es war, als müßte er die Welt durch Beobachtung zerkleinern, weil sonst alles zuviel für ihn war. Er zwang sich, in den Himmel zu sehen, wo es nichts zu sehen gab. Kannst du mir etwas erzählen? fragte er Dagmar. Ich weiß nichts, sagte sie. Woran hast du denn gerade gedacht? fragte er. An die Stadtwerke in Delmenhorst, sagte sie. Dann erzähle mir etwas von den Stadtwerken in Delmenhorst, sagte er. Es wird dich langweilen, sagte sie. Dann langweile mich eben mal, sagte er. Ich dachte gerade an unseren Betriebspsychologen, den wir seit ein paar Monaten im Amt in Delmenhorst haben, begann sie. Einen Betriebspsychologen, sagte er, so etwas Feines habt ihr? Ja, sagte sie, der war angeblich notwendig, weil über fünfzig Prozent der Angestellten während ihrer Dienstzeit trinken. Er wurde in ein leerstehendes Zimmerchen einquartiert, und jeder, der will, kann ihn besuchen. Zuerst haben sich natürlich alle über ihn lustig gemacht: als ob

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