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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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höhnisch verzichtete. Es war unklar, ob es wirklich nur Geiz war, der ihn von der Anschaffung von Zahnpasta abhielt. Mindestens genauso stark wie sein Geiz war sein Bedürfnis nach absoluter Sauberkeit. Es konnte aber auch sein, daß er, indem er VIM zum Zähneputzen verwendete, seine Verbundenheit mit seiner Heimatstadt Mannheim ausdrücken wollte. Denn VIM wurde in Mannheimer Fabriken hergestellt, und der Vater war stolz darauf, in einer Stadt geboren worden zu sein und immer gelebt zu haben, aus der ein so hervorragendes Reinigungsmittel kam. Oft erzählte er die Geschichte von VIM . Denn die Bezeichnung VIM war nichts anderes als eine Produktionsabkürzung und hieß ausgeschrieben VERSUCH I MANNHEIM . Die drei ersten Buchstaben dieser Bezeichnung ergaben VIM , und diese Abkürzung gab schließlich den bleibenden Namen ab. Immer wenn der Vater die VIM -Geschichte erzählte, waren die Gesichter der Besucher (Nachbarn oder Verwandte) überrascht und freundlich, und in ihrer Freundlichkeit sonnte sich der Vater, als wäre er selbst der VIM -Versuchsleiter gewesen oder, indem er diese Geschichte erzählte, erst richtig geworden.
    Dagmar ließ das Wasser ablaufen. Sie klatschte die nassen Wäschestücke gegen den Beckenrand, wrang sie aus und hängte sie über die Heizung. Ich bin gleich fertig, sagte sie. Sie wusch sich ausführlich das Gesicht und noch einmal die Hände. Dann wechselte sie den Pullover, kämmte sich und schlüpfte in ihre Schuhe. In diesen Schuhen kriege ich bestimmt wieder nasse Füße, sagte sie. Sollen wir die neuen Schuhe gleich kaufen? fragte er. Das machen wir, sagte sie, hinterher können wir ja immer noch einen Spaziergang machen.
    Unten im Foyer standen ein paar Patienten und kicherten und lachten. Sogar ein jüngerer Stationsarzt sah vergnügt umher. Als sie am Schreibtisch der Empfangsdame vorbeigingen, konnte sich ein Patient nicht mehr zurückhalten und rief: Riechen Sie nichts? Riechen Sie denn nichts? Dagmar hob kurz die Schultern und wandte sich an die Empfangsdame. Abschaffel blieb unwillig in der Nähe der Glastür stehen und wartete, bis Dagmar wieder bei ihm war. Er sah in den vollen Papierkorb der Empfangsdame und hatte Lust, das aufgebauschte Papier tief in den Korb hinunterzudrücken. Genauso drückte er selbst gewöhnlich bei Ajax im Büro das Papier seines eigenen Papierkorbs nieder. Dagmar kam zurück. Es hat jemand eine Stinkbombe in den Empfangsraum geworfen, sagte sie zu ihm; es wird Fasnacht. Ach so, machte er. Die Patienten lachten leicht und still über den Geruch. Die Empfangsdame öffnete vergnügt ein Klappfenster, und ein Patient fing sogar an, auf eine gespielte Art unter den Sesseln nachzusehen. Es stank ein wenig, aber es stank eigentlich immer ein wenig in der Klinik, genauso, wie es in einer Schule, in einer Behörde oder in einer Firma immer ein wenig stank. Vielleicht freuten sich die Patienten nur deswegen, weil sie den Gestank endlich als solchen wahrnehmen und bezeichnen durften. Die vergnügte Laune wirkte sich aus, als wäre ein kleiner, handlicher Frieden ausgebrochen.
    Tatsächlich war die Fasnachtszeit gekommen. In Sattlach liefen einige als Cowboys verkleidete Kinder umher, die in ihrer Schwerfälligkeit komisch und lächerlich wirkten. Die Mütter hatten ihnen wenigstens zwei Pullover unter die Hemden angezogen. Im Schaufenster eines Tabakwarenladens hingen einige bunte Papierschlangen. Dagmar wollte sich ein Paar Strümpfe kaufen. Abschaffel betrat mit ihr den größten Laden, den es in Sattlach gab. Es war ein früheres Bauernhaus, das in eine Art Supermarkt umgebaut worden war. Der Laden war vollkommen leer. Ein junges Mädchen mit schlechten Zähnen und roten Wangen schleppte im hinteren Teil leere Bierkästen in einen angrenzenden Lagerraum. Obwohl die ganze vordere Schmalseite des Hauses durch eine durchgehende Fensterfront ersetzt worden war, fiel nicht genügend Licht in den hinteren Teil des Verkaufsraums. Auf beiden Längsseiten waren je drei kleine Oberlichtfenster eingebaut worden, aber auch sie gaben nicht genug Licht. Das junge Mädchen kam aus dem Lagerraum hervor und schaltete die Deckenbeleuchtung an. Abschaffel staunte. Offenbar wurde das Licht nur angeschaltet, wenn überraschend ein Kunde im Laden war. Dagmar wühlte in einem kleinen Karton, in dem Damenstrümpfe aufbewahrt waren. Abschaffel betrachtete ein Regal, auf dem Schulartikel und Schreibwaren auslagen.
    Dagmar hatte ein Paar Strümpfe gefunden und bezahlte sie bei dem

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