Abschaffel
versuchte die Bauernhäuser unaufdringlich zu betrachten. Viele dieser Höfe machten einen so unaufgeräumten, fast verwahrlosten Eindruck, als seien vielleicht sogar Verbrechen nötig, um Ordnung und Klarheit zu schaffen. Jahrzehntelang kamen diese Bauern nicht von ihren Höfen herunter, jahrzehntelang versuchten sie, mit irgendwelchen Zuständen in ihren Familien fertig zu werden, bis am Ende die Kräfte und die Geduld nicht mehr reichten. Abschaffel folgte mit dem Blick den Zäunen und Gattern, die sich im Schnee als schöne Muster abhoben. Einmal sah er eine kleine graue Katze am Wegrand. Ihr linkes Ohr war nach hinten umgeklappt, so daß Abschaffel die behaarte rosa Innenseite des Ohrs sehen konnte. Er beugte sich nieder, weil er das Ohr nach vorn klappen wollte, aber die Katze entwand sich seiner Zudringlichkeit und lief auf den Hof zurück.
Endlich, zum erstenmal, seit er hier ging, sah er einen Menschen. Es war eine jüngere, dicke Frau, die den Talweg herunterkam. In der linken Hand trug sie einen anscheinend gefüllten Milcheimer. Der Eimer war groß und schwer, und sie konnte ihn nur knapp über der Straße halten. Wo ging sie mit dem Eimer hin? Die Frau hielt Gesicht und Blick nach unten. Abschaffel überlegte, ob er sie grüßen sollte oder nicht, und weil er zur Entscheidung einen Anhaltspunkt brauchte, wollte er den Gruß davon abhängig machen, ob sie ihn vorher anblickte oder nicht. Sie blickte ihn nicht an und grüßte nicht. Es gelang ihm, der Frau nicht weiter nachzuphantasieren. Hätte er grüßen müssen, ob sie ihn anblickte oder nicht? Abschaffel war ein wenig lustlos geworden. Sollte er weitergehen oder nicht? In den Obstbäumen auf den Feldern saßen ruhig die Amseln und plusterten ihr Gefieder gegen die Kälte auf. Manchmal landeten große Krähen auf dem Schnee, aber sie flogen rasch wieder auf. An einem Zaunpfahl war ein kleines rotes Blechschild angebracht. Abschaffel las die Aufschrift: WILD-TOLLWUT! GEFÄHRDETER BEZIRK. Weiter oben, an einer Weggabelung, wurde ein überdachtes Christuskreuz sichtbar. So weit wollte Abschaffel auf jeden Fall noch gehen. Wieder sah er eine Katze, die einen kleinen Vogel im Maul hielt. Sie ließ ihn ein paarmal los, und jedesmal flatterte der Vogel schleifend über den Boden. Die Katze setzte schnell nach, faßte ihn mit dem Maul und lähmte ihn mit einem neuen Biß. So ging es zwei oder drei Minuten lang, bis der Vogel liegen blieb und nur noch Reflexe zustande brachte. Auch nach diesen kleinen Bewegungen schlug die Katze mit spielerischer Wucht ein, bis der Vogel sich auf den Rücken legte und damit das Zeichen seines Todes gab. Welch eine sonderbare Haltung für Vögel, die sie nie im Leben einnahmen: auf dem Rücken liegen. Die Katze wartete noch eine Weile, bis sie ganz sicher war, daß kein Leben mehr in diesem Körper war. Der Vogel war ganz und gar zerfleddert, und die Katze fing an, ihn zu fressen. Sie rückte mit dem Körper dicht an die Beute heran und hielt den kauenden Kopf niedrig über dem Boden. Mit weit geöffneten Augen verfolgte sie gleichzeitig, was um sie herum geschah, während sie den Vogel fraß. Sie vertilgte ihn vollständig: einschließlich seines Gefieders.
Am Fuß des Christuskreuzes lagen frische Blumen und ein verwelkter Adventskranz. Die Christusfigur war babyfarben, fast rosa bemalt, und seine Augendeckel ragten wie kleine Dächer aus dem Gesicht. Als Abschaffel die Schrauben sah, mit denen die Figur am Kreuz befestigt war, mußte er kichern. Es sah aus, als sei Jesus Christus hier nicht nur an das Kreuz genagelt, sondern auch noch angeschraubt worden. Auf dem Querbalken des Kreuzes war eingeschnitzt: FÜR DAS VATERLAND GESTORBEN IM WELTKRIEG 1914–18 .Dann folgten acht Namen von Männern aus dem Dorf. Unterhalb der Füße der Christusfigur war eine Holztafel angebracht, die lediglich zwei Jahreszahlen als Überschrift trug: 1940–1945. Dann folgten wieder Namen von Männern, diesmal waren es elf: Bischler, Josef; Suhm, Albert; Armbruster, Karl und so weiter: Nachname und Vorname, als würden sie eben erst aufgerufen.
Etwa zweihundert Meter oberhalb des Christuskreuzes sah Abschaffel die Ruine des abgebrannten Hauses stehen: links, dicht am Wald. Es sah aus wie ein riesiges schwarzes Loch im Schnee. Die Mauern standen noch, die Außenränder des Dachs waren noch als Gerüst zu sehen. Die Mitte des Dachs war restlos durchgebrannt. Im Innenraum lagen nur verkohlte Balken und schwarz gewordene Steine. Von den
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