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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Fensterrahmen waren nur schwarz verkohlte Reste übriggeblieben. Abschaffel verspürte Lust, in der Ruine umherzugehen. Vielleicht sah er noch einige unversehrte Gegenstände, eine Kaffeekanne vielleicht oder das Porzellanbecken einer Toilette. Der Zugang zum Haus war abgesperrt. Wahrscheinlich waren noch Untersuchungen im Gange, aber es war weit und breit kein Mensch zu sehen. Abschaffel wunderte sich. Warum waren nicht mehr Personen da, die sich die Ruine anschauten? Es erfaßte ihn Bedauern und Mitleid mit dem Leben der Bauern. Er versuchte den Mann zu verstehen, der das Feuer in seinem Haus gelegt hatte und dabei zu Tode gekommen war. Welch einen Haß mußte er gegen das Leben gehegt haben! Abschaffel ging wieder zurück. Die Reste, die nach der Zerstörung des Lebens übriggeblieben waren, waren langweilig. Abschaffel sah auf den Schnee und dachte: Gerade im Winter hätte der Mann doch so gut nachdenken können über seine Probleme. Aber vielleicht hatte ihn gerade der Winter verrückt gemacht. Dieser dauernde Schnee, monatelang lag er da. Wenn sie morgens die Fensterläden öffneten und sie abends wieder zuzogen: immer war draußen der Schnee. Die Langeweile der Natur, die immerzu dasselbe machte. So ging Abschaffel den Weg hinab, und es tat ihm gut, daß er sich eine Weile in Personen einfühlte, die er nicht kannte. Er bemerkte nicht einmal, daß er das Tal fast genauso hinunterging wie die Frau mit der Milchkanne, die ihm vor einer Dreiviertelstunde begegnet war: Kopf und Blick in hängender Haltung nach unten gerichtet und abwesend kaum begriffenen Ereignissen nachlebend.
    In der Nacht darauf träumte er einen Traum, der ihn in seltenem Schrecken zurückließ. Mitten in der Nacht schaltete er das Licht an, und nur durch langes Anschauen der Umgebung seines Zimmers verschwanden die scharfen Bildnisse der Angst. Der Traum hatte mit einer schlechten Nachricht begonnen: Seine Mutter war überraschend gestorben, hieß es, und er erinnerte sich, daß er vor Schreck vom Stuhl gesprungen war. Er suchte seine Frau, um ihr die schlechte Nachricht zu sagen. Er fand eine Tür, hinter der er seine Frau wußte, und öffnete sie. Aber er mußte sehen, daß seine Frau gerade mit einem anderen Mann im Bett lag, und ein um vieles vergrößerter Schrecken schleuderte ihn zurück. Zwei große schlechte Nachrichten trieben ihn aus dem Haus hinaus, und draußen goß prasselnder Regen auf ihn nieder. Sein Hemd schützte ihn nicht, und sofort war er so naß wie der Regen selbst. Nie mehr konnte er sein Haus betreten, das war sicher. Er lief und lief und sah sich um nach einer anderen Person, die ihn halten sollte. Er fand niemand, und seine Füße sanken ein in den schlammigen Grund, den der nicht nachlassende Regen aus dem Feld gemacht hatte. Immer weniger konnte er sehen. Er rieb sich die Augen, aber gegen den scharfen Regen gab es keinen Schutz. Am Horizont, sah er, war ein Feuer ausgebrochen. Weit von ihm entfernt brannten einzelne Häuser lichterloh, aber er hörte das Knattern der Flammen ganz nah. Umkehren konnte er nicht mehr, sein Haus war zu schlecht. Das Feuer brannte einen weiten Gürtel um ihn. Noch schwächer wurde sein Augenlicht. Ob es wichtiger war, die Augen zu reiben oder trotz schlechter Sicht einen schweren Schritt im Schlamm weiterzuwaten, konnte er nicht mehr entscheiden. Alle Hoffnung fiel von ihm ab. Da erblickte er in einiger Entfernung einen vermummten Mann, und neue Zuversicht stärkte ihn. Er ging auf den Mann zu, weil er endlich jemandem, bevor er selbst ums Leben kam, die Unglücksfälle mitteilen wollte. Sobald ihn der Mann aber erblickt hatte, öffnete er seinen dicken Mantel und holte aus der trockenen Innenseite eine brennende Fackel heraus. War er es, der das Feuer gelegt hatte? Der Mann warf die Fackel in Abschaffels Richtung. Sie traf ihn nicht, sondern fiel neben ihm ins Feld, und obwohl der Boden durch und durch naß und verschlammt war, entzündete die Fackel die Erde in Abschaffels unmittelbarer Umgebung. Nun war das Feuer überall. Abschaffel lebte nur noch wenige Minuten. Sein Körper sank in die Erde, und die Flammen schlugen über seinem Kopf zusammen, und es war, als sollte er zwei Tode sterben: den des Verbrennens und den des Ertrinkens.
    Lange dauerte es, bis Abschaffel in die Bewußtheit zurückgekehrt war. Noch als er sich die verschlafenen Augen rieb, erinnerte ihn diese Geste zurück an den Traum, in dem er mit derselben Bewegung das Wasser aus den Augen herauswischen wollte.

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