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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Radio seien auf ihn gemünzt, und auch das Fernsehprogramm sei extra auf ihn zugeschnitten, weil seine Verfolger seine Probleme in den Dreck ziehen wollten. Über den Sender könnten sich alle bei ihm einschalten, und deswegen hörte er auch manchmal Stimmen. Und als er abgeholt wurde, verlangte er von zufällig herumstehenden Patienten, sie sollten die Weltpresse alarmieren.
    Es waren nur wenige Patienten, die ihr Bedürfnis befriedigen mußten, sich auf diese Weise von schwerer Krankheit zu distanzieren. Es war, als würden sich in einem Büro ein paar Lehrlinge einen langen Irrenwitz erzählen. Als könnte sich jemand sein Leiden aussuchen! Unbeweglich saß Abschaffel da und aß sein Knäckebrot. Den Fruchtjoghurt ließ er wie üblich stehen. Ungeduldig hörte er die Fragmente aus dem Leben des paranoiden Schwindlers. An einigen Tischen wurde das Frühstücksgeschirr schon abgeräumt. Die Frauen, die das Geschirr auf kleine Wägelchen aufluden und durch eine Drehtür in die Küche fuhren, vermieden es, die Patienten anzuschauen. Meistens nahm Abschaffel dieses Verhalten gar nicht wahr, aber heute glaubte er, der auf den Boden gerichtete Blick der Küchenhilfen sei eine Art Vorsichtsmaßnahme. Die Abholung des Schwindlers hatte alle Patienten vorübergehend zu gefährlichen, abseitigen Personen gemacht, denen man besser nicht in die Augen sah. Fühlte sich Abschaffel auch schon verfolgt? Er verspürte Lust, alle Leiden zu verteidigen. Die Gesundheit eines einzelnen Menschen drückte nichts aus über das Befinden aller anderen Menschen, weil Gesundheit immer nur das private Glück einer einzelnen Person war. Aber die Krankheit eines einzelnen Menschen war nutzbar für alle Gesunden, die ihre Krankheiten lediglich noch nicht kannten. Ein solcher Nutzen ließ sich der Gesundheit nicht nachsagen, und deswegen war eine einzelne kranke Person für die Menschheit wichtiger als ein einzelner Gesunder.
    Abschaffel wollte aufstehen und weggehen (das Krankheitsgeflüster der anderen war unerträglich), aber da richtete ein Patient vom Nebentisch das Wort an ihn. Der Mann war ungefähr vierzig Jahre alt, trug ein weißes Hemd mit rosa Streifen und eine tiefblaue Krawatte. Er hatte ein gelbes, ungesundes Gesicht und so starken Bartwuchs, daß sein Kinn fast dunkelblau war und zu seiner Krawatte paßte. Sogar in den Innengängen seiner Ohren standen kleine Haarbüschel. Der hat’s doch überstanden, sagte er. Abschaffel nickte. Ich wollte, mich würden sie auch abholen, fuhr er fort und kam an Abschaffels Tisch, legte eine Zeitung nieder, blieb am Tisch stehen und redete weiter. Nächste Woche komme ich hier raus, und dann geht’s zu Hause wieder los. Ja, ja, machte Abschaffel. Ich bin Bezirksvertreter beziehungsweise Gebietsreisender, so müssen wir uns heute nennen, sagte er und lachte, weil sich unter einem Vertreter viele Leute nur noch einen Betrüger vorstellen können, und oft haben sie ja auch recht damit. Also Gebietsreisender bin ich für Büromaschinen, mein Bezirk reicht von Nordbaden, angefangen ungefähr bei Mosbach, kennen Sie Mosbach, schönes Städtchen am Neckar, wenn man Zeit hätte, dann hinüber bis Rheinland-Pfalz und das Saarland, das ganze Saarland, jawohl. Diesen Bezirk muß ich Monat für Monat runternudeln, von Mosbach bis Saarbrücken, und das sind jeden Monat rund viertausend Kilometer. Darf ich? fragte der Patient und deutete auf die Kaffeekanne. Abschaffel nickte, und der Mann schenkte sich den Rest Kaffee in seine Tasse, die er sich vom anderen Tisch herübergeholt hatte. Auf diesem Gebiet muß ich jeden Monat für mindestens achtzigtausend Flöhe Umsatz machen, achtzigtausend, haben Sie das gecheckt? Die mach ich auch, ich liege immer so bei hundertacht, hundertzehn, manchmal sogar bei hundertfünfzehn Prozent Umsatzerfüllung, und trotzdem kriege ich Monat für Monat eins auf den Kopf, sagte er. Er war erregt und zündete sich mit seinen gelben Fingern eine Zigarette an. Alles, was ich verkaufe, sagte er, also Rechenanlagen, Büromöbel, Textautomaten und so weiter, das alles ist in fünfzehn Produktgruppen aufgeteilt, und die achtzigtausend Umsatz, die ich machen muß, sollen sich ziemlich gleich auf alle fünfzehn Produktgruppen verteilen. Und eben das ist nicht möglich. Es ist ums Verrecken nicht möglich, ich würd’s ja machen, wenn es ginge. Es sind unter den fünfzehn Produktgruppen ein paar marktschwache Sachen dabei, die auslaufen, die einfach nicht mehr zu verkaufen sind, zum

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