Abschaffel
ohne Entschluß und ohne Vorbereitung; er stand geschlagen und leer auf, nahm seine Sachen an sich und ging. Die Eltern standen wieder lachend im Türrahmen, die Mutter winkte ihm sogar, als er die Treppen hinunterging, nach, und Abschaffel konnte es nicht verwinden, daß er die Treppen zu ihr hochwinken mußte.
Auf der Straße besserte sich sein Zustand weiter, und bald belustigte es ihn, daß er mit dem Straßenbahnfahrkärtchen der Mutter in die Hafengegend zu den Bordellen fuhr. Das Brillenputztuch vom Vater, das Fahrgeld von der Mutter! Was in ihren Kräften stand, hatten sie für ihn getan. In der Straßenbahn berührte er mit der Hand die Hand eines alten Mannes, als sie sich beide am gleichen Stück der Haltestange festhalten wollten, und es machte ihm gar nichts aus. Der alte Mann zog zwar sofort seine Hand weg, als er die Berührung merkte, und auch Abschaffel zog seine Hand weg, dann sahen sich beide an, lachten sogar, als seien sie beide bereit gewesen, das Versehen zu wiederholen. Es war kurz nach sechs Uhr und schon dunkel, als er ausstieg. Von ferne sah er Schilder und Neonschriftzeichen von Wirtschaften und Bars, und Abschaffel fühlte sich allem nah. Die Altstadt wandelte sich allmählich um in das von Fabriken bestimmte Bild der Hafengegend. Eine kleine Werft, eine Dampfmühle, eine mittlere Metallwarenfabrik, die niedrigen Häuser einiger Großhandlungen, ein Seilwarengeschäft mit Schiffereibedarf, da und dort ein griechisches oder jugoslawisches Lokal. MANNHEIM HAT DEN ZWEITGRÖSSTEN BINNENHAFEN EUROPAS, ein Lernsatz aus der Volksschule, hier fiel er ihm wieder ein. Er sah keine Mädchen, und nach seinem Gefühl hätte er hier schon längst welche sehen müssen. Er kam nicht auf den Gedanken, daß es vielleicht zu früh am Tage war, vielleicht war auch die Kälte zu groß für den Straßenstrich. Abschaffel ging umher und suchte und suchte, aber er sah nur einen Gastarbeiter mit einem schlafenden Kind auf dem Arm, der zwei einzelne Markstücke in einen Zigarettenautomaten warf, zog und verschwand. Gab es hier keinen Straßenstrich? Abschaffel war nahe daran, es zu glauben und wieder über die Lächerlichkeit der Stadt seiner Herkunft herzuziehen. Er ging in eine Bar, er war der einzige Gast, und er wollte sofort wieder hinausgehen. Er blieb, bestellte einen Korn, eine Animierdame kam heran, und Abschaffel hatte keine Lust, sich auch nur fünf Mark abnehmen zu lassen. Ich muß gleich weg zur Arbeit, sagte er, und die Frau ließ ihn in Ruhe. Er merkte, wie er zunehmend gespannt und unruhig wurde. Er war nicht darauf eingerichtet, Umstände hinzunehmen oder Verzögerungen zu verarbeiten. Entweder er fuhr sofort nach Frankfurt zurück, oder er ließ sich doch auf Umstände ein, und dies bedeutete, daß er in einen anderen Stadtteil über den Neckar fahren mußte, um in die geschlossene Bordellstraße zu kommen. Beim Versuch, zu einer Entscheidung zu kommen, geriet er statt dessen in eine ihm gut bekannte Stimmung, in der er einen Großteil seiner Kindheit zugebracht hatte: sich durch etwas hindurchkämpfen müssen; vollständig vergessen, um was es eigentlich geht, nur irgendwie alles durchstehen. Abschaffel wurde schwer und wütend. Er trank sein Glas aus und war der Meinung, es müßte ihm dabei geholfen werden, auf der Welt zu sein. Eingekugelt und innerlich vollkommen stumm verließ er das Lokal und fuhr mit einem Taxi über den Neckar. Der Taxifahrer fing zweimal ein Gespräch an, Abschaffel blieb stumm. Mit der Zunge spielte er sich an den Zähnen, aber auch das wurde zu einer Anstrengung. Ein Heiliger hätte erscheinen und Abschaffel sagen müssen, es sei in seiner Lage das beste, nach Hause zu fahren, sich ins Bett zu legen und rasch einzuschlafen. Er bezahlte den Taxifahrer und stand vor dem Eingang der Bordellstraße. Die Straße war hinten und vorn verschlossen mit gegeneinander versetzten Mauern. Als er durch den Eingang war, erschrak er. Er sah mindestens zwei- bis dreihundert Männer die Straße auf- und abschlendern, eine bewegliche Menge aus Mänteln, Jacken und Hüten. Links und rechts in den Fenstern der niedrigen Häuser die Frauen. Wer den Fenstern nahe kam, konnte als jemand gelten, der wirklich wollte. Die meisten Männer hielten sich in der Mitte der Straße und stellten sich vor, wie es wäre, wenn sie sich wirklich trauten. Manche Frauen saßen hinter Glas, und wenn ein Mann vor dem Fenster stehenblieb, öffneten sie es. Die meisten der Männer waren Gastarbeiter, kleine
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