Abschaffel
Betrug, dachte er. Das Mädchen sah zu, wie er sich wortlos anzog. Sie schaltete ein Radio ein, und es gab Musik. Jetzt mach ich Feierabend, sagte sie.
Und was machst du am Feierabend, fragte Abschaffel. Ich geh mit meinem Mann essen, sagte sie. Jetzt gleich? fragte Abschaffel. Ja, sagte sie, es ist Zeit, er hat doch eben schon geklopft, sagte sie.
Abschaffel verließ rasch das Mädchen, das Zimmer, das Haus, die Straße und die Stadt. Er fuhr mit dem Taxi zum Bahnhof, und er hatte Glück. In zehn Minuten fuhr ein D-Zug. Im Zug ging er lange von Abteil zu Abteil, weil er allein sein wollte. Er fand ein leeres Abteil, und es kam ihm wie ein großes Glück vor. Nie mehr gehe ich in ein Bordell, dachte er. Er fand nicht heraus, was ihn so erschreckt hatte. War es das Klopfen an der Tür? Die vielen Männer? Der Ärger über den Betrug? Oder durfte er einfach in dieser Stadt nichts mehr machen? Er verbrachte eine Weile damit, sich solche Fragen vorzulegen, weil es angenehm war, sich mit den Antworten nicht anstrengen zu müssen. Nach einer Weile sah er aus dem Fenster und fand alles lächerlich. Er holte die Gesammelten Erzählungen von Franz Kafka aus der Tasche. Er wollte eine erotische Geschichte lesen und begann, wie auf einer Speisekarte die Liste der Erzählungstitel von oben nach unten abzusuchen. Aber er fand nichts Erotisches. EIN LANDARZT, AUF DER GALERIE, VOR DEM GESETZ, SCHAKALE UND ARABER, EIN BESUCH IM BERGWERK, so lauteten die Titel. Lächerlich auch das: Erotik bei Kafka zu suchen. Wie aber kam Franz Kafka mit seinem Geschlechtsteil zurecht? Abschaffel wußte, Kafka war dreimal verlobt gewesen, und auch seine anderen Beziehungen zu Frauen waren sämtlich Katastrophen. Ausgerechnet Franz Kafka, der die Angst und die Pein so gut kannte und immer wieder neu suchte, verschloß sich vor der Beschreibung des Geschlechtlichen, wo er soviel Angst und Pein hätte finden können und sicher auch fand. Dies dachte Abschaffel noch mehrmals, dann ermüdete er und schlief ein.
An einem Dienstagmittag, als Abschaffel vom Essen zurückkehrte, lag der Angestellte Gersthoff zuckend und bleich auf dem Boden des Großraumbüros. Er röchelte etwas Unverständliches, als einige andere Angestellte an ihn herantraten und ihm helfen wollten, ihn aber nur ansahen. Niemand hatte gesehen, wie er umgefallen war. Abschaffel hielt sich in einiger Entfernung, weil er Gersthoff nicht unmittelbar ins Gesicht sehen wollte, und er traute sich auch nicht, sich an seinen Schreibtisch zu setzen. Abschaffel kannte Gersthoff nicht; er war etwas über fünfzig Jahre alt, still und dick und ängstlich, unbekannt in der Welt und unbekannt im Betrieb. Jemand hatte einen Krankenwagen gerufen, man wartete auf das Eintreffen der Helfer. Jemand hatte Gersthoff aufsetzen wollen, aber Gersthoff wehrte ab, er hatte zu starke Schmerzen. Frau Schönböck stellte sich an Abschaffels Seite und sagte, Gersthoff ist nicht krankenversichert. So, sagte Abschaffel. Ich weiß es bestimmt, sagte Frau Schönböck, er hat damit geprahlt und gesagt, das ist alles rausgeschmissenes Geld. Der Zwischenfall hatte zur Folge, daß nur noch geflüstert wurde. Aus dem Flüstern ragten die beiden Worte Schlaganfall und Herzinfarkt etwas deutlicher hervor. Abschaffel schwieg. Frau Schönböck ging immer wieder hin zu Gersthoff und den anderen und kam dann zu Abschaffel zurück und sagte ihm etwas. Er hat über die Versicherungsgrenze hinaus verdient und war nicht verpflichtet, Beiträge an die Krankenversicherung zu zahlen. Alle haben gesagt, er soll das nicht tun, sagte Frau Schönböck flüsternd, keiner wird gesünder, und jetzt hat er’s. Abschaffel hörte uninteressiert hin. Er war nicht der einzige, der sich in einiger Entfernung zum Geschehen hielt. Der Betrieb war unterbrochen, und die Atmosphäre zwischen den Angestellten war ganz weich geworden. Endlich kamen zwei Männer mit Bahre, sie sprangen mit der leeren Bahre durch das Büro, und Abschaffel mußte etwas über sie lachen. Frau Schönböck kam wieder zu Abschaffel gelaufen. Offenbar wollte sie nicht aus der Nähe erleben, wie Gersthoff auf die Bahre geladen wurde. Und wirklich hatte Abschaffel selbst ein Gefühl der Schwäche, als er sah, wie elend und grotesk ein hinfälliger Körper war. Dieser riesige, massige Körper, der sich ohne fremde Hilfe nicht mehr bewegen konnte. Die Verladung Gersthoffs auf die Bahre dauerte lang, weil Gersthoff immer noch große Schmerzen hatte. Zwischen den beiden Trägern
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