Abschaffel
Schlittschuhlaufen geht.
Abschaffel lief umher und gab sich Mühe, sich mit dem zufriedenzugeben, was allgemein sichtbar war. Er betrachtete einen Strumpfautomaten, der neben dem Eingang eines Friseursalons angebracht war. Ein Mann verließ den Friseursalon und fuhr sich mit der flachen Hand den Nacken hinunter, um das neue Gefühl zu überprüfen, das nach dem Haareschneiden entstanden war. Im Schaufenster des Friseursalons hing eine grau gewordene Gardine, und im Vordergrund lagen einige eingestaubte Kosmetikartikel. Abschaffel wußte nicht, warum er so beharrlich den Friseursalon anschaute. Der Laden ängstigte ihn. Der Laden war gegen seine Sehnsucht gerichtet. Wer einen Friseursalon dieser Sorte betrat, hatte sich endgültig mit der ärgsten Kleinlichkeit abgefunden. Genau neben dem Friseursalon befand sich ein Textilgeschäft. Auch das war ein kleiner Laden mit einem einzigen Schaufenster. Der Laden stellte Kittelschürzen aus, eine Kittelschürze neben der anderen, mindestens zehn Stück, eine so häßlich wie die andere, jede ein Sonderangebot. Das war die Tageskluft der Hausfrauen in der Umgebung. Was die Schaufenster zeigten, ging keinen Zentimeter über die ortsübliche Phantasie hinaus. Abschaffel wollte in ein inneres Jammern ausbrechen. Er half sich durch Weitergehen, und er kam vor das Schaufenster eines Zoogeschäfts. Er sah in ein Gewirr von Käfigen, Behältern und Glaskästen. Im Vordergrund, in einem Behälter von der Größe einer Schuhschachtel, wieselten auf sandigem Grund zwei Mäuse herum. Abschaffel senkte den Kopf und las auf einer Tafel, daß es sich um Japanische Tanzmäuse handelte. Abschaffel wurde es finster im Kopf. Der Friseursalon, die Kittelschürzen und die JAPANISCHE TANZMÄUSE . Eine hochkarätige Trauer kündigte sich an; sie kam auf Stelzen die Straße entlang direkt auf Abschaffel zu. Abschaffel mußte schnell flüchten oder sich ablenken oder vielleicht schlafen. Er blieb aber stehen und sah auf zwei hellbraune Hasen, die am Boden des Schaufensters in einem Sperrholzkasten saßen. Kinder klopften an die Scheibe, und manchmal zuckten die Hasen deswegen zusammen, manchmal auch nicht. Er merkte, wie ihm die zitternden Hasen leid taten, und er ging dazu über, sein eigenes Leben dem Leben der Hasen gleichzusetzen: Man sitzt in einem Kasten, von außen wird dauernd geklopft, aber niemand weiß, wie man flüchten soll, und also verbringt man zitternd seine Tage.
Eine ganze Weile hing er diesem Bild an, immer noch vor dem Schaufenster des Zoogeschäfts stehend. Bis er merkte, wie lächerlich, wie peinlich diese Gleichsetzung war. Aber es kam ihm gar nicht darauf an, etwas Zutreffendes zu denken. Die Hauptsache war, daß er für die Trauer, in der er sich verfangen hatte, ein Bild gefunden hatte, das ihn auch wieder beruhigte. Es blieb, als er sich nicht mehr leid tat, eine dünne Scham zurück, die er gut ertragen konnte. Sich schämen war leichter als sich leid tun. Abschaffel lief eine ewig lange Straße in die Stadt hinein und fühlte sich während des Gehens lockerer werden. Die Scham wirkte auf den Körper, als würde ihm etwas weggenommen und gleichzeitig etwas gegeben. Die Scham machte den Menschen unvollständig. Zugleich war die Scham auch etwas Angenehmes. Es ging irgend etwas im Körper vor. Aber was? Abschaffel ging vorsichtig, damit er das Gefühl der Scham nicht beeinträchtigte. Es gelang ihm, sehr weit zu kommen, fast an den Rand des engeren Stadtkerns, ehe die Scham langsam aufgebraucht war. Abschaffel war ganz leicht geworden.
Margot hatte sich auffällig zurechtgemacht. Sie hatte sich die Lippen mit einem ins Violett übergehenden Rot angemalt. Die Gegend um ihre Augen war grünlich. Ihre Haare waren frisch gewaschen und leicht, und ihre Bluse war fest und steif, frisch aus der Reinigung. Ich habe mich gerade geschämt, sagte Abschaffel. Zum drittenmal saßen sie einander im gleichen italienischen Lokal gegenüber. Und ich hatte fürchterliche Kopfschmerzen heute morgen, sagte sie. Wenn ich aufwache, habe ich sie noch nicht, aber eine halbe Minute später sind sie da, genau mit dem Einsetzen des Bewußtseins. Es ist schrecklich, hoffentlich werde ich keine Migränefrau, sagte sie. Dann darf ich mich nicht bücken, sonst wird der Schmerz zu stark, und man möchte aufschreien; es ist, als würde einem ein Stein vorn in den Kopf fallen, wenn man sich bückt, sagte Margot. Ist es jetzt besser, sagte Abschaffel. Ja, sagte sie, es ist nur noch ganz wenig da, es
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