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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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ist wie eine ständige Untermalung von allem, aber nicht schlimm. Und warum hast du dich geschämt? fragte sie. Weil ich mein Leben mit dem Leben eines Hasen in einem Zoogeschäft verglichen habe, sagte er, wie lächerlich! Ja, sagte sie, warum hast du nicht lachen müssen? Ich weiß es nicht, sagte er. In dem Augenblick, als ich mich wie ein Hase fühlte, war ich eben hundertprozentig davon überzeugt. Und lachen könnte ich nur dann, wenn ich ganz sicher wäre, daß ich hinterher nicht doch wieder alles ganz ernst nehmen müßte; und dieser ewige Wechsel ist mir zu anstrengend, deswegen bin ich lieber ernst, sagte Abschaffel.
    Es war schön, sich alle Behinderungen zu sagen, solche, die es gab, und solche, die es geben könnte. Sie aßen Cannelloni und tranken Valpolicella, und Abschaffel sagte: Deine Phantasie geht immer in Richtung Unglück? Und deine nicht auch? fragte Margot zurück. Ja, sagten beide, ja, ja. Warum geht sie dort immer hin? fragte Margot. Weil die Phantasie dorthin geht, wo das Leben ist, und das Leben ist eben meistens unglücklich. Nimm dich, sagte Abschaffel, du wachst morgens auf, und ein Stein fällt dir in den Kopf, so schlimm sind deine Kopfschmerzen, ist das vielleicht ein Glück? Daß der Mensch ahnungslos aufsteht und sofort mitten in einem Schmerz ist? Und so könnte ich ewig weitermachen, sagte sie. Fast alles in meinem Leben ist bis jetzt verkehrt gelaufen. Kannst du dir vorstellen, daß ich fast dreißig Jahre alt war, als ich zum erstenmal beischlief? Das kann ich mir nicht vorstellen, sagte er. Siehst du, sagte sie, es ist so verkehrt, daß es sich nur der Verkehrte selbst noch vorstellen kann. Ich war doch dauernd im Umkreis der Kirche, da traute man sich eben nichts. Noch nicht einmal onanieren habe ich mich getraut, sagte sie.
    Durch das Essen und Sprechen wurde ihr Lippenstift immer mehr abgewischt. Nur noch in den Ecken ihres Mundes war Farbe erkennbar. Abschaffel sagte es ihr. Willst du, daß ich die Lippen neu anmale, fragte sie. Ich weiß es nicht, sagte er. Ich male mich sonst wenig an, eigentlich gar nicht mehr. Warum hast du es heute gemacht? fragte Abschaffel. Ich wollte schon, daß ich dir gefalle, sagte sie. Und stört es dich nicht, während des Essens immer wieder den Geschmack des Lippenstifts im Mund zu haben? Doch, es stört mich, aber es gefällt mir auch, denn wenn ich Lippenstift schmecke, habe ich das Gefühl, es ist etwas los in meinem Leben. Abschaffel lachte. Warum lachst du? Das muß ich auch mal versuchen, sagte er; ich habe auch oft das Gefühl, in meinem Leben sei nichts los. Bei dir funktioniert es nicht, sagte sie; du bist ja nicht als Mädchen auf die Welt gekommen und weißt nicht, was man sich für das spätere Leben davon verspricht, wenn man als Mädchen mit zwölf oder dreizehn anfängt, sich die Lippen anzumalen. Das ist ungeheuerlich, und es hört nie mehr auf, sagte Margot. Willst du bedauert werden? fragte Abschaffel. Nein, ich will, sagte sie, daß du nachher mit mir weggehst in meine Wohnung, sonst war die ganze Anmalerei umsonst, und das wäre entsetzlich. Ich habe meine Wohnung heute morgen extra aufgeräumt, sagte sie. Ich habe in meiner Wohnung auch aufgeräumt, sagte Abschaffel. Bist du nicht neugierig auf meine Wohnung? fragte sie. Doch, sagte er; bist du auf meine Wohnung nicht noch neugieriger? Doch, doch, sagte sie, wir können auch in deine Wohnung gehen; es ist wahr, ich bin viel neugieriger als du. Wir können ja erst in meine Wohnung gehen und dann in deine, sagte Abschaffel. Margot lachte. Wenn wir hier fertig sind, fahren wir zu mir, dort bleiben wir den Nachmittag über, am Abend gehen wir essen, dann fahren wir zu dir, sagte Abschaffel. Dann siehst du meine Wohnung nicht bei Tageslicht, sagte sie. Wir können es auch umgekehrt machen, erst zu dir und dann zu mir, sagte er. Dann sehe ich deine Wohnung nicht bei Tageslicht, sagte sie. Kannst du dich in einer fremden Wohnung ganz frei bewegen, fragte er. Doch, schon, und du? Nicht richtig, sagte er, ich kriege das Besuchsgefühl nicht weg, und ich meine auch, es müßte still sein, wenn ich zum erstenmal in einer fremden Wohnung bin. Dann gehen wir doch zu dir, sagte Margot.
    Es zahlte jeder für sich, was sie gegessen und getrunken hatten. Mit der U-Bahn fuhren sie in seine Wohnung, und Abschaffel fiel auf, daß er sie erst küßte, als sie im Zimmer waren und er die Tür geschlossen hatte. Küßt du noch gern, fragte sie. Ja, sagte er, du auch? Ich werde noch gern

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