Abschaffel
lange gar nicht glauben, daß es seine Kollegen noch immer gab und daß alles wirklich weiterging. Alles, was er sah, störte ihn. Er arbeitete schleppend und achtete darauf, in nichts verwickelt zu werden. Die Verzweiflung machte ihn still und schreckhaft. Er war so schreckhaft, daß er die äußeren Ränder seiner Brille schon mehrfach für den Schatten eines anderen Menschen gehalten hatte, der überraschend an ihn herangetreten war. Er nahm dann die Brille herunter und beruhigte sich. Es störte ihn, daß der Kollege, der ihm gegenübersaß, sich die Nase putzte. In der Innentasche von Abschaffels Jacke war ein Loch. Durch das Loch war eine einzelne Zigarette hindurchgerutscht. Er griff mit zwei Fingern durch das Loch in der Innentasche, hob mit der anderen Hand den Saum der Jacke hoch und fühlte die Zigarette, die im Jackensaum lag. Er angelte die Zigarette wieder hoch und legte sie auf den Schreibtisch. Abschaffel fühlte, daß der Kollege gegenüber, der übrigens Ronselt hieß, sich nur schwer zurückhalten konnte, ein Gespräch mit ihm anzufangen. Ronselt erzählte statt dessen halblaut Witze und sah immer wieder auf Abschaffel, ob er nicht einmal mitlachte. Abschaffel verzog keine Miene. Er war so hilflos erstaunt über die Tatsache, daß er nun wieder in diesem Büro sein mußte, daß er glaubte, jeden Menschen durch eine künstliche Versteinerung seines Gesichts abschrecken zu müssen. Wer weiß, was Elektrizität ist, fragte Ronselt ins Büro. Elektrizität ist, sagte Ronselt, wenn man morgens mit Hochspannung aufsteht, mit Widerstand an die Arbeit geht, den ganzen Tag gegen den Strom schwimmt, dann geladen nach Hause kommt, an die Dose faßt und eine gewischt kriegt, das ist Elektrizität. Abschaffel hatte das Gefühl, es laufe ihm ein kleines Tierchen, vielleicht eine Spinne, über das Gesicht, er faßte mehrfach mit der Hand danach, aber es war eine Täuschung, in seinem Gesicht war nichts. Einige Lehrlinge lachten, und Ronselt sah auf Abschaffel. Wenn das Telefon klingelte und Abschaffel mußte den Hörer abnehmen, dann sprach er ganz leise und gedehnt, mit zu langen Abständen zwischen den Worten, bittend und brüchig, als plane er in sein Sprechen schon seine Auflösung ein. Immer hatte er das Gefühl, alles, was hier mit ihm zu tun hatte, kann nicht so bleiben. Die Arbeit eines Büroangestellten hat den Vorteil, daß sie vorübergehend gespielt werden kann. In einer trotzigen Stimmung, die als Rest seiner langsam verflogenen Verzweiflung übriggeblieben war, beschloß Abschaffel, die Arbeit heute nur zu spielen. Obgleich es nicht einfach war, die Arbeit gleich einen ganzen Tag lang zu spielen. Er hob allerlei Papiere hoch und legte sie an eine andere Stelle, er nahm den Telefonhörer ab und verlängerte künstlich die Gespräche, aber er wunderte sich, daß trotz allem immer wieder Arbeit dabei herauskam. Er tat viel weniger als sonst, aber es war Arbeit. Auch nach drei Tagen Abwesenheit fand er mühelos Anschluß an alle Tätigkeiten. Am Abend wollte er Margot treffen. Abschaffel fürchtete sich vor der Wiederbegegnung mit Frau Schönböck in der Mittagspause. Sie hatte schon einige Male zu ihm herübergesehen, und Abschaffel würde ihr nicht entgehen können. Er überlegte, ob sie vielleicht so tun würde, als hätte sie Ansprüche an ihn, die er zu erfüllen hätte. Er wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben, und alles, was er mit ihr zu tun gehabt hatte, hätte er am liebsten rückgängig gemacht; vermutlich drängte sie auf Wiederholung. Leider gab es zwischen den Menschen keine Möglichkeit, irgend etwas offiziell rückgängig zu machen. Abschaffel spielte mit einer Klebstofftube; er löste den Klebstoff, der um die Tubenöffnung herum hart geworden war, mit den Fingern ab. Die abgelösten Teile rollte er mit den Fingern zu Kügelchen zusammen und legte sie nebeneinander auf seine Schreibtischplatte. Von dieser Beschäftigung waren seine Finger selbst klebrig geworden, und er begann, den Klebstoff in kleinen Fetzen von seinen Fingerspitzen herunterzuziehen. Dabei verlor er sich tief in Erinnerungen an seine Kindheit. Das Herunterziehen von Klebstoffteilen von den Fingerspitzen war ein Gefühl, das er in der Kindheit kennengelernt hatte. Der Augenblick, wenn ein kleiner Fetzen vom Finger gezogen wurde, war eine Zärtlichkeit. Ronselt beobachtete Abschaffel, und Abschaffel legte die Tube weg. Ronselt war geschmacklos und dumm, aber gutmütig. Er würde niemand verpfeifen, das wußte
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