Abschaffel
beziehungsweise nein, ich habe zwar etwas gegessen, ich habe aber immer noch Hunger; willst du etwas trinken? Wenn du einen Tee hast, sagte sie. Tee? fragte Abschaffel, ich habe Tee hier, aber warum Tee? Ich kriege zu starke Kopfschmerzen, wenn ich jetzt schon Alkohol trinke, später vielleicht und dann wenig, höchstens ein Glas. Gut, sagte er, also Tee. Er ging in die Küche und stellte Wasser auf. Sie folgte ihm und sah ihm zu. An allen drei Tagen, wo wir in dem italienischen Lokal waren, habe ich abends fürchterliche Kopfschmerzen gehabt, sagte sie; und normale Schmerztabletten helfen mir fast gar nicht mehr.
Abschaffel schnitt sich ein Brot herunter, legte etwas Wurst darauf und aß es schnell auf. Das Wasser kochte, und er schüttete es in die Kanne. So zerstört wie deine Freundin bist du nicht, fragte er. Nein, sagte Margot; ich habe zwar auch einen furchtbaren Schlag auf den Kopf gekriegt, aber nur einen; ich bin auch zerstört, aber nicht ganz. Ich kann mich immer wieder retten, sagte sie; ich habe schon festgestellt, daß ich alles zweimal machen muß, alles. Es wundert mich auch gar nicht, daß meine Ehe kaputtging, das war selbstverständlich. Bei allem, was ich tun will, verrenne ich mich erst mal ganz gründlich und ganz furchtbar, so daß ich hinterher kaum noch weiß, was mit mir geschehen ist und was mit mir weiter geschehen soll. Dann muß ich mich lange erholen, ich heule dann viel, und niemand kann mir helfen. Aber wenn diese Zeit vorüber ist, melde ich mich wieder ins Geschehen zurück und versuche es ein zweites Mal, und beim zweitenmal ist mir bisher alles besser gelungen, sagte sie.
Sie trugen den Tee hinüber ins Zimmer, und Abschaffel legte eine Platte auf. Soll ich dir mal eine Geschichte von mir erzählen, sagte sie. Ja, sagte er. Aber nur, wenn du mir versprichst, daß du hinterher eine Geschichte von dir erzählst. Ja, sagte er. Die Geschichte hängt damit zusammen, daß ich alles zweimal machen muß, das heißt, die Geschichte erklärt, wie ich einmal gründlich gestört worden bin, als ich etwas zum erstenmal gemacht habe, von meinem Vater natürlich, von wem sonst, sagte sie. Und zwar hatten wir in unserem Garten einen wirklich sehr großen und schönen Kirschbaum. Ich sah diesen Kirschbaum jahraus, jahrein, während ich heranwuchs, und ich stellte mir als Kind immer wieder vor, einmal wird der Tag kommen, dann werde ich auf diesen Kirschbaum hinaufklettern. Ich konnte mir den Kirschbaum überhaupt nur noch so vorstellen, daß ich eines Tages hinaufklettern werde. Und wirklich kam der Tag. Und gleich beim erstenmal konnte ich sehr gut klettern, und sogar ein bestimmtes Stück am Stamm, das keine Seitenäste hatte, habe ich gut hinter mich bringen können. Als ich ungefähr zur Hälfte oben war, entdeckte mich mein Vater. Er war hellauf entsetzt und schrie zu mir hoch: Da kommst du ja nie wieder herunter! Um Gottes willen! Paß auf! Wir kommen, wir bringen eine Leiter! Paß auf! So schrie mein Vater, und es wirkte tatsächlich so stark auf mich, daß ich mich nicht mehr traute, irgendeine Bewegung auf dem Baum zu machen. Ich wartete, bis mein Vater eine Leiter herbeigeschafft hatte, selbst hinaufgeklettert war und mich herunterholte. Das ist ein Beispiel für die frühe Untergrabung von Selbstvertrauen, ja für mehr, für den Verlust von bereits stabilem Selbstvertrauen durch den Einspruch des Vaters. Und das hat mein Vater oft und oft gemacht, sagte sie, in vielen Situationen. Jetzt kommst du dran.
Bei mir ist es auch eine Vatergeschichte, natürlich ganz anders als deine. Mein Problem war, daß mein Vater von mir nichts annahm. Alles, was ich machte, war ohne jede Zukunft, jedenfalls in seinen Augen. Eines Tages aber trat doch eine Situation ein, in der er etwas von mir annahm, indem er etwas, was ich getan hatte, nachahmte. Es war Winter, und ich hatte mir ein Paar Stiefel gekauft, halbhohe Stiefel mit kräftigen gerippten Sohlen, und als ich zu Hause sagte, wie billig diese Schuhe waren, lobte er mich für meinen guten Kauf und ließ sich sagen, in welchem Geschäft ich die Schuhe gekauft hatte. Am nächsten Tag schon ging er in dieses Geschäft und kaufte sich tatsächlich die gleichen Schuhe. Und ich glaubte, nun endlich ein ernst zu nehmender Erwachsener geworden zu sein. Damals war ich ungefähr siebzehn Jahre alt und hatte Füße so groß wie mein Vater. Die ganze Familie lobte mich, und ich fühlte mich gut. Wieder einen Tag später ging mein Vater zum Arzt, und zwar in
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