Abschaffel
hätte sie diese Geschichte schon in aller Frühe im Büro herumerzählt. Es war klar, daß Frau Schönböck eine starke Geschichte brauchte, um nach Abschaffels geschwiegener Ablehnung wieder in die Normalität zu finden. In diese Art Frieden willigte denn auch Abschaffel ein. Ich habe noch nie mit Gewalt zu tun gehabt, sagte er. Dann können Sie aber froh sein, sagte sie.
Abschaffel beeilte sich, rasch nach Hause zu kommen. Margot wollte ihn gegen halb acht besuchen. Es war sechs Uhr, als er seine Wohnung betrat. Im Flur blieb er stehen und merkte, daß er seine Wohnung nicht erleben konnte. Er sah in das Zimmer hinein, dann in die kleine Küche. Er stieß sich wieder an den Dingen. Er setzte sich in das Zimmer und sah umher. Ungefähr zehn Minuten brauchte er, bis er seine Bereitschaft zur Enttäuschung niedergekämpft und sich klargemacht hatte, daß dies hier seine Wohnung war und den Gegenständen in dieser Wohnung nichts anderes gegeben war, als ihn völlig unbewegt zu empfangen. Diese Anerkennung verlangte ihm einen Kampf ab, der ihn erschöpft und ideenlos zurückließ. Er erhob sich und ging ganz langsam ins Badezimmer. Er hatte eigentlich drei schmutzige Hemden noch in die Reinigung bringen wollen, bevor um halb sieben die Geschäfte schlossen. Aber es fehlte ihm jeglicher Antrieb für diese Erledigung. Im Bad schweifte sein Blick lange über die drei zerknitterten Hemden, die auf einem Stuhl lagen. Auch wenn er, wie jetzt, den Hauptstoß seiner Enttäuschungsbereitschaft schon abgewehrt hatte, so blieb doch das Gefäß für kleinere Enttäuschungen noch eine Weile offen. Er fürchtete sich davor, auseinandergenommen zu werden durch eine Serie drückender Eingebungen. Plötzlich hatte er den Wunsch nach sehr viel Geld, und gleich schämte er sich dafür. Diesen Wunsch hatte er oft als Kind gehabt, und als Kind war es ihm oft gelungen, sich mit Hilfe dieses Wunsches aus Bedrückungen herauszudrehen. Die Bearbeitung des Wunsches endete damit, daß er sich als Kind vorstellte, er werde das gewünschte Geld später besitzen. Das konnte sich der dreißigjährige Abschaffel nicht mehr vormachen. Dennoch tauchte der Wunsch in einer Unversehrtheit auf, als sei Abschaffel inzwischen kein Jahr älter geworden. Es blieb ihm gar nichts anderes übrig, als sich wieder zu schämen. Sollte er baden oder duschen, um auf irgendwelche anderen Empfindungen zu kommen? Abschaffel war nicht mehr der Meinung, daß Bewegung allein schon zu Hoffnung berechtigt. Er badete nicht und duschte nicht und wußte nicht, wie die Zeit verging.
Genau um halb acht kam Margot. Was hast du heute gemacht, fragte er. Ich war bei meiner Freundin, von der ich dir schon erzählt habe, der Pfarrerstochter. Ach ja, sagte er. Die hat mir wieder Geschichten erzählt, da schreist du dich weg; sie ist der zerstörteste Mensch, den ich kenne, na ja, Pfarrers Kind und Müllers Vieh, das wird nichts, sagt man. Erzähl, sagte er. Ich will dir nicht soviel Kirchenzeug erzählen, sonst kriegst du mich zu schnell über, sagte sie. Von dieser Pfarrerstochter hast du mir noch nichts erzählt, sagte er. Die waren sieben Kinder zu Hause, und alle sieben mußten jeden Sonntag in die Kirche, um ihren Vater auf der Kanzel zu sehen und seine Predigt zu hören. Kein Kind wollte das, aber alle mußten. Und die Karin, meine Freundin, lernte deshalb, weil sie einen Ausweg suchte, schon als Kind, in Ohnmacht zu fallen. Gleich zu Beginn des Gottesdienstes fiel sie in Ohnmacht, und daraufhin wurde sie in das Krankenzimmer hinter den Altar gebracht und gepflegt, und so war sie die einzige, die sich die Predigt nicht anhören mußte. Es gelang ihr nicht jeden Sonntag, aber sehr oft, sagte Margot; wie findest du das? Fällt sie heute auch noch in Ohnmacht? fragte er. Sie braucht gar nicht mehr in Ohnmacht zu fallen, sie ist dauernd ohnmächtig, weil ihr alles mißlingt, was sie anfaßt, sagte Margot. Als ihre Mutter mit dem siebten Kind schwanger war, hörten die anderen sechs Kinder in einem Nebenzimmer die Mutter klagen und schimpfen, daß sie genug hätte und das siebte Kind nicht mehr lieben könne, jeden Tag schimpfte sie gegen das ungeborene Kind und gegen den Vater, und da setzten sich die sechs Kinder zusammen und beschlossen, an Stelle der Mutter auch das siebte Kind noch zu lieben; kannst du dir diese Sitzung vorstellen? Ja, sagte Abschaffel.
Willst du etwas essen? fragte er. Nein, ich hab schon, vielleicht später; hast du schon? Ja, sagte Abschaffel,
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