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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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vielleicht zu versagen. Sie half ihm, das Unausweichliche erträglicher zu machen, und sein Versagen konnte darin bestehen, daß er sie nicht fester an sich band. Alles, was sie in sein Leben einbrachte, nahm er zwar äußerlich an, aber zugleich wies er Margot innerlich ab. Er war davon überzeugt, daß sein Leben unter dem Zeichen einer grundsätzlichen und unaufhebbaren Benachteiligung stand, und in dieser Lage waren kleine Verbesserungen von der Art, wie Margot sie einführte, vielleicht angenehm, aber unannehmbar. Und Margot war in der Lage, ganze Serien von häuslichen Annehmlichkeiten zustande zu bringen, die über Stunden hin haltbar waren. Er bemerkte dann nicht mehr, daß ihm sein Leben an der Seite von Margot eigentlich gefiel. Und solange Margot bei ihm war, gelang ihm auch die Distanzierung von ihr nicht. Erst wenn sie seine Wohnung verlassen hatte, schoß ihm die Ablehnung mit enormer Kraft in den Kopf. Dann verstand er selbst nicht, warum er das, was ihm eben noch gefallen hatte, so sehr ablehnte. Und weil er nicht darin geübt war, solche Widersprüche zu erkennen noch sie zu verstehen, noch weniger sie zu akzeptieren, dachte er dann, um sich zu erleichtern, in ganz einfachen Gegenüberstellungen. Margot war dann eine gutmütige Person, er ein hinterhältiger Feigling. Das war oft das erbärmliche Ergebnis, das ihm sein Kopf von all den Überforderungen übrigließ.
    Diesmal kam es nicht soweit mit ihm. Er war in der Innenstadt angekommen, und rechtzeitig, bevor ihn sein Kopf in eine elende Figur umphantasierte, wurde er abgelenkt. Mit anderen Personen beobachtete er die Flucht eines älteren Mannes vor zwei Verkäufern in weißen Kutten. Abschaffel war dankbar, etwas Fremdes beobachten zu können. Er genierte sich nicht, stehenzubleiben und durch das Stehenbleiben zu einem bloß bornierten Zuschauer von anderen Menschen zu werden. Der alte Mann wurde nach kurzer Flucht von den beiden Verkäufern gestellt. Sie rissen an seinem Popelinemantel und hielten ihn an den Armen fest; der alte Mann wehrte sich, aber seine Lage war aussichtslos. Vermutlich hatte er etwas gestohlen. Die beiden Verkäufer redeten in schlechtem Deutsch auf den Mann ein, der aus Scham die Augen zusammenkniff. Die Verkäufer waren klein und dunkel, wahrscheinlich Ausländer. Der alte Mann wehrte sich immer noch, aber es war wie das Zucken eines Fischs, den man bereits in der Hand hält. Die beiden Verkäufer führten ihn ab in ein nahes Geschäft, und Abschaffel gehörte zu den Zuschauern, die sich draußen an der Schaufensterscheibe aufstellten und noch immer nicht von der Beobachtung des alten Mannes ablassen wollten. Im Geschäft wurde er von einem riesigen Deutschen empfangen, der ihn auf einen Stuhl drückte. Der Deutsche, vermutlich der Inhaber oder Geschäftsführer, ließ sich den Personalausweis geben und beauftragte einen der Ausländer, die Polizei zu holen. Die Scham des Mannes, in seinem Alter noch bei einem Diebstahl erwischt worden zu sein, vergrößerte sich noch durch das Lob, das der deutsche Geschäftsführer dem zurückgebliebenen Ausländer für seine Tüchtigkeit spendierte. Der alte Mann öffnete sein Gesicht nicht mehr. Er sah jetzt aus wie ein Indianer. Da erschien der zweite Ausländer mit einem Polizisten. Gemeinsam standen sie um ihn herum und verurteilten ihn.
    Abschaffel empfand nicht, daß es nicht menschlich sei, die Scham eines anderen Menschen anzusehen. Nach einer Weile ging er einfach weg. Er überlegte, wie er sich benehmen würde, wenn er erwischt würde. Sonderbarerweise interessierte ihn diese Möglichkeit auch nicht. Wenn er in einem Geschäft etwas mitnahm, geriet er in dieses weiche Selbstgefühl hinein, das nach einiger Zeit wieder nachließ, und mehr interessierte ihn nicht. Er würde, stellte er sich vor, gespielt apathisch auf einem Stuhl sitzen, alle Fragen beantworten und nach Hause gehen. Er bemerkte nicht, daß ihn die Beobachtung dieses Vorfalls selbst dazu gebracht hatte, nicht mehr stehlen zu wollen. Jedenfalls sagten alle seine Stimmungen, die er nun hatte, jeden neuen Diebstahl kategorisch ab. Als er in der U-Bahn saß, erschrak er. Zwei Kontrolleure kämmten die Bahn durch. Sie waren eingestiegen wie gewöhnliche Fahrgäste, wie sie es immer machten, einer vorne und einer hinten, und als die Wagentüren zugeschnappt waren, verlangten sie laut nach den Fahrscheinen. Zum Glück wurde niemand beim Schwarzfahren erwischt, und schon zwei Stationen weiter stiegen die Kontrolleure

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