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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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nicht? Er wollte gerade anfangen, diese ihn innerlich schmerzenden Vorgänge von einem anderen Ende her noch einmal durchzudenken, da klingelte das Telefon auf seinem Schreibtisch. Sofort richtete sich sein Gesicht auf, seine Augen kamen nach vorne, sein Oberkörper reckte sich. Er war wieder da. Am Telefon war Margot. Er bemerkte, daß sie von einer Telefonzelle aus anrief; darüber war er erleichtert, weil dies bedeutete, daß sie nicht allzulange reden würde. Alles, was sie sagte, entgeisterte ihn; er glaubte, so einfach könne gar nichts sein. Bist du heute abend zu Hause? sagte sie. Ja, sagte er. Ich will zu dir kommen, sagte sie. Ja, gut, komm nur, sagte er. Soll ich Wein mitbringen? fragte sie ihn mit fast unbegreiflicher Munterkeit. Nein, sagte er, ich kaufe selbst Wein ein. Aber nicht den billigen, sagte sie, dann krieg ich morgens mein Kopfweh nicht weg. Nein, sagte er, ich kauf guten Wein. Gut, ja, sagte sie. Er überlegte, was er ihr noch sagen könnte. Sollte er ihr die Geschichte vom Kopiergerät der Firma erzählen? Oder die Sache mit den Rollstühlen? Margot war schon längst wieder am Reden, aber sie streute in ihr Sprechen schon ein, daß sie gleich auflegen werde. Ich komm gegen acht, sagte sie. Du kannst auch früher kommen, sagte er. Also gut, rief sie, bis später.
    Er war leicht benommen von diesem kurzen, heftigen Gespräch. War Margot nicht erst vor Tagen bei ihm gewesen? Er wußte nicht, ob er sie eigentlich heute abend sehen wollte oder nicht. Er schämte sich, weil er so wenig zu sagen gewußt hatte, und er kam auf den Gedanken, sich für künftige, überraschende Anrufe von Margot ein Zettelchen mit zwei oder drei Stichworten vorzubereiten, von dem er jederzeit ein Gesprächsthema ablesen konnte. Kaum hatte er aufgelegt, versuchte er sofort wieder, in seinen vorigen Erinnerungszusammenhang zurückzukehren. Er hatte doch nachgedacht über seine Jugendwünsche und ihre Nichterfüllung, aber wie war das genau? Und er bemerkte, daß er sich jetzt nicht mehr mit der gleichen Genauigkeit erinnern konnte wie vorher. Der ganze Wunschkomplex war zurückgetreten nach irgendwohin. Zerstreut blickte Abschaffel in die Gesichter der Kollegen und zupfte sich an den Augenbrauen.
    Durch das Verschwinden seiner eigenen Gedanken hörte er plötzlich wieder, was im Büro geredet wurde. Fräulein Zittel sagte, daß sie Fertigpuddings nicht leiden konnte, weil man sie immer aus ihren Plastikbechern herausessen müsse. Dieses Detail drang mit einer nicht geahnten Kraft in seinen Kopf und veranlaßte ihn wieder, sofort an etwas zu denken, was nichts mit dem Büro zu tun hatte. Heute sehnte er sich mehr nach dem Feierabend als sonst. Im Augenblick war er sogar froh darüber, daß Margot ihn heute abend besuchte. Dieses Glück blieb ihm eine Weile erhalten, und er ging dazu über, an Margot zu denken. In Margot kannte er jemanden, dessen Anwesenheit ein Angebot war, den Alltag langsam akzeptieren zu lernen. Margot war das Normale; sie war etwas, womit man das Leben hinbringen konnte, ohne es besonders zu spüren, und das wäre vielleicht auch für Abschaffel das Erreichbare gewesen. Sie hatte ihm schon vieles beigebracht, ohne daß er es im einzelnen bemerkt hatte. Morgens, wenn sie zusammen frühstückten, kochte sie zwei weiche Eier, die, wenn sie auf den Frühstückstisch kamen, auch wirklich weich und warm waren. Denn Margot war es gewesen, die eines Tages eine Eieruhr für seinen Haushalt mitgebracht hatte, die pünktlich nach fünfeinhalb Minuten Kochzeit läutete. Und Margot war es gewesen, die, bevor sie die Eier mit einem Suppenlöffel ins kochende Wasser einlegte, sie mit einer Stecknadel anstach, so daß die Schalen während des Kochens nicht aufplatzten. Und Margot war es gewesen, die die Eier, nachdem sie genau fünfeinhalb Minuten gekocht hatten, ganz kurz in kaltes Wasser eintauchte, was Margot »abschrecken« nannte. Er lachte über dieses Wort und fand es seltsam, daß man Eier abschrecken konnte. Er vergaß im übrigen, daß er all diese Fertigkeiten schon längst nachahmte, und darin war immerhin eine Art von Dankbarkeit erkennbar.
    Wenig später, nach Feierabend, beschloß er, heute nicht mit dem Bus zu fahren, sondern zu laufen und weiterhin an Margot zu denken. Er fand selbst, daß er selten so gut von ihr dachte wie an diesem Feierabend, und er wollte sich diese Gelegenheit noch eine Weile erhalten.
    Darin ging er heute sogar so weit, daß er sich plötzlich beschuldigte, Margot gegenüber

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