Abschaffel
Abschaffels nie erfüllten Wünschen trat nach der Gitarrenphase in Erscheinung. Er war immer noch sechzehn, da wünschte er sich ein Aquarium. Er wollte den kleinen Fischen zusehen, wie sie ruhig und vollkommen geräuschlos in einem schönen grünschimmernden Kasten umherschwammen. Er stellte sich vor, lediglich auf der anderen Seite der Scheibe zu sein, genauso ruhig und wortlos wie die Fische. Heute sah es so aus, als seien in dem Wunsch nach einem Aquarium schon alle späteren Enttäuschungen mit weiteren nicht erfüllten Wünschen enthalten gewesen. Denn ein Aquarium war ein Beruhigungsinstrument für einen ewig Enttäuschten, der sich abends zu seinen kleinen Fischen setzte und deren Anspruchslosigkeit bewunderte. Der Gedanke, daß er schon mit sechzehn seinen bis heute anhaltenden Rückzug einzuleiten begann, beunruhigte Abschaffel und machte ihn tief niedergeschlagen. Der Wunsch nach dem Aquarium war auch deswegen beunruhigend, weil er ihn noch heute manchmal wünschte. Mit dem Bild der ruhigen Fische, die für ihn vollkommene Zufriedenheit und also Wunschlosigkeit ausstrahlten, wollte er sich noch heute manchmal trösten. Später, mit siebzehn oder achtzehn, wünschte er sich einen Fotoapparat. Er wollte fotografieren, sich ein eigenes Labor einrichten, damit er selbst entwickeln und vergrößern konnte. Gerade fiel Abschaffel ein – auf der Fotografie des Büros war es gerade friedlich und still: Fräulein Schindler aß ein kleines Stück Wassermelone, Frau Schönböck putzte ihr Telefon –, es fiel ihm ein, daß alle seine Jugendwünsche (das Aquarium ausgenommen) darauf hinausliefen, sein ganzes Leben mit einer einzigen Maßnahme richtig zu regeln. Offenbar hatte er als Kind geglaubt, man müsse unter einer Vielzahl von falschen nur den richtigen Wunsch haben, dann sei man gerettet. In der Reihe der lebensregelnden Jugendwünsche war der Fotoapparat die letzte Station. Er las Fotozeitschriften und suchte in der Zeitung nach Kaufangeboten, in denen vielleicht ein gebrauchter Apparat günstig angeboten wurde. In dieser Zeit erfuhr ein Onkel von seinem Wunsch, und der Onkel sagte, er hätte einen gebrauchten Fotoapparat, und er würde ihm den Apparat schenken. Es sei nur eine kleine Reparatur nötig, dann sei der Apparat wie neu. So dicht war eine Wunscherfüllung niemals zuvor an ihn herangekommen. Er gab alle Versuche, selbst zu einem Apparat zu kommen, sofort auf, und wartete auf das Geschenk des Onkels. Und wirklich, der Onkel hatte nicht geschwindelt. Abschaffel brachte den Apparat schon einen Tag später zur Reparatur. In zehn bis vierzehn Tagen sollte er fertig sein. Nach Ablauf dieser Frist sagte der Händler, die Reparatur sei ungewöhnlich schwierig. Es sei ein Ersatzteil nötig, das er nicht vorrätig habe, er müsse es erst beim Werk bestellen. Es entstanden dadurch drei bis vier Wochen neue Wartezeit. Und als Abschaffel danach erneut bei dem Fotohändler erschien, mußte er hören, daß das Herstellerwerk das gewünschte Ersatzteil nicht mehr liefern könne, weil dieser Fotoapparat nicht mehr gebaut werde.
So erhielt Abschaffel nach mehreren Wochen, in denen er sich bereits beschenkt und erfüllt geglaubt hatte, den Apparat als wertloses Ding zurück. Nach dieser Versagung hatte er nicht mehr die Kraft, sich noch einmal einem neuen Wunsch zuzuwenden. Er war so beeindruckt von dieser Niederlage, daß er sie sogar dem Onkel verheimlichte. Er sagte ihm ein- oder zweimal, der Apparat werde noch immer repariert, bis der Onkel selbst nicht mehr daran glaubte. Er nahm wahrscheinlich an, Abschaffel hätte den Apparat vielleicht verloren oder verkauft, und aus Taktgefühl kam der Onkel nicht mehr auf sein Geschenk zurück.
Er konnte sich nicht erinnern, nach dem Fotoapparat noch einmal etwas gewünscht zu haben, was er auf ähnliche Weise mit der Fügung seines Lebens in Verbindung gebracht hätte. Ob er, wenn er damals einen Fotoapparat gekriegt hätte, heute ein selbständiger, vielbeschäftigter, vielleicht sogar berühmter Fotograf geworden wäre? Wie kranke Gespenster tauchten solche Fragen auf. Oder sollte er sich gar heute einen Fotoapparat kaufen und es noch einmal versuchen? Nein, das ging auch nicht. Zu späte Wunscherfüllung war eben keine Wunscherfüllung mehr. Die Erfüllung wäre nur eine Erinnerung an einen alten Wunsch gewesen, der verletzt worden war, weil er so lange unerfüllt blieb. Deswegen wandelte sich zu späte Wunscherfüllung in Enttäuschung um.
Oder vielleicht doch
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