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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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erging er sich dann in Andeutungen, die einen Berg geheimen Wissens vermuten lassen sollten. Eine halbe Stunde später pumpte er einen achtzehnjährigen Lehrling wieder um zehn Mark an.
    Zuerst wollte Abschaffel nach Hause gehen und Hornung von dort aus anrufen. Weil er schnell zu Hause sein wollte, fuhr er mit Bus und U-Bahn. Es war ein gewöhnlicher Dienstag, und Hornung würde sicher zu Hause sein. Abschaffel hatte ohnehin eine Art von Annäherung an Hornung geplant. Er schätzte Hornung seit einiger Zeit anders ein. Zu Anfang war Hornung für ihn ein armseliger Schwachkopf gewesen, ein Sozialkrüppel, von dem man sich am besten fernhielt. Das war er in den Augen von Abschaffel zwar immer noch, aber er war zugleich auch etwas anderes geworden, und dies fast nur durch die Redensarten und Sprüche, von denen Hornung offenbar einen endlosen Vorrat hatte. Besonders morgens hatte er seine beste Zeit. Gestern hatte er gesagt, als er am Morgen seine Aktentasche auf den Schreibtisch schlug: Was sind wir doch für blöde Hunde; jeden Tag, an dem wir neu in die Firma gehen, gehört uns frisch ins Kreuz getreten, aber es findet sich noch nicht einmal jemand, der uns jeden Tag ins Kreuz tritt. So etwas würde von Ronselt oder Schobert niemals kommen, von Abschaffel auch nicht. Ronselt sah sich sogar mißbilligend um und murmelte: Der hat’s grad nötig. Fräulein Schindler, die eine Abmagerungskur nach der anderen machte, was auf den dicklichen Hornung allein schon lächerlich wirkte, glaubte tatsächlich, durch ihre schlanke Figur die Welt jeden Morgen neu für sich begeistern zu können. Aber Hornung sagte zu ihr: Haben Sie gut geruht, Euer Merkwürden? Schönen Stuhlgang gehabt heute morgen? Hornung lachte laut, und Abschaffel freute sich im stillen. Heute, zur Mittagszeit, nannte sich Hornung überraschend Marquis de pommes frites. Alle mußten lachen, und Abschaffel hielt diesen Spruch für das Beste, was er je von Hornung gehört hatte. Einige lachten sogar so laut und lang, daß Abschaffel fürchtete, soeben sei der Spitzname für Hornung gemacht worden. Am Nachmittag hatte Abschaffel noch einmal über den Ausdruck nachgedacht. Etwas Hohes, gesellschaftlich Bedeutsames, die Bezeichnung Marquis, war mit etwas Niedrigem und Banalem, den Pommes frites, gekoppelt worden. Vielleicht sollte der Ausdruck bedeuten, überlegte Abschaffel, daß die niedrigen Personen, die Angestellten, Handlanger und Diensthabenden, eines Tages vielleicht die bedeutsamen Personen sind. Hatte Hornung das ausdrücken wollen? Vielleicht überlegte Abschaffel zuviel; möglicherweise hatte Hornung gar nichts ausdrücken wollen, aber wie kam dieser verschuldete Hornung dazu, mit dem Mund manchmal so lebendig zu sein?
    Hornung freute sich, als Abschaffel anrief. Ja, gut, kommen Sie, sagte er; wann sind Sie da? In einer Stunde etwa, sagte Abschaffel, vielleicht auch etwas später. Hornung erklärte Abschaffel den Fahrtweg. Hornung wohnte in Frankfurt-Höchst. An der Hauptwache mußte er einmal umsteigen, dann konnte er durchfahren bis Höchst. Eine gute Dreiviertelstunde brauchen Sie, bis Sie hier sind, sagte Hornung, das zieht sich lang hin. Bringen Sie jemand mit? Nein, sagte Abschaffel, ich komme allein.
    Abschaffel trank einen Rest Milch aus einer Papptüte und aß zwei Wurstbrote dazu. Dann nahm er den Ordner und ging. Er lief die Straße hinunter, in der er wohnte. In der Höhe der chemischen Reinigung konnte ein Autofahrer nur ganz dicht vor einem Kind halten, das auf die Straße gesprungen war. Das Kind war hingefallen, war aber nicht verletzt. Der Fahrer, ein junger Mann, stieg aus dem Wagen, blaß im Gesicht. Eine ältere Frau, die vielleicht die Mutter des Fahrers war, stieg ebenfalls aus dem Wagen. Sie ging sofort vor das Auto, hob das Kind auf und sagte: Das war nicht schlimm. Der Fahrer lehnte am Wagen und sagte nichts. Offenbar war das Kind ein Gastarbeiterkind. Einige ausländische Frauen waren aus den Häusern gekommen und erregten sich vor dem Auto. Alle redeten aufeinander ein, und die Begleiterin des Fahrers sprach am lautesten. Das Kind ist auf die Straße gesprungen, dazu können wir nichts, rief sie, und außerdem ist ja gar nichts passiert, was wollt ihr denn. Abschaffel sah auf den blassen Fahrer, und er wünschte sich, auch einmal einen solchen Schreck zu kriegen wie dieser Fahrer. Wahrscheinlich ist ein solcher Schreck die einzige Möglichkeit, mit gutem Gewissen eine Weile nichts tun zu müssen. Blutleer darf man irgendwo

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