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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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herumstehen. Aber ein solcher Schreck hielt auch nicht lange an, dann ging alles wieder weiter. Die Beifahrerin verachtete er; sie gehörte zu den vielen, die Unglücke durch Geschwätz bereinigen wollen. Endlich erschien die Mutter des Kindes, wahrscheinlich eine Griechin. Das Kind stürzte sich in die dunklen Tücher und Röcke der Mutter. Das Kind war schon vor dem Auto gewesen, ganz dicht sogar, es hatte schon die Gewalt des Metalls gespürt und den Geruch des Reifengummis eingeatmet, und aus all den fremden Drohungen war es mit einer schmerzenden Schulter und ein paar Schrammen ins Leben zurückgekehrt. Abschaffel beschloß, zur Feier der Harmlosigkeit des Geschehens in einer Bäckerei eine Marzipanrolle zu kaufen und sie auf der Stelle aufzuessen.
    Die Bäckerei war in der Nähe; er ging nicht gerne in diese Bäckerei, weil ihn dort der Anblick eines vierzehn oder fünfzehn Jahre alten Mädchens niedergeschlagen machte. Das Mädchen saß gewöhnlich in einem Nebenraum, der vom Verkaufsraum aus einsehbar war, und schrieb an Schularbeiten. Sie saß mit einem Buckel an einem kleinen Holztisch, und sie sah jedesmal auf, wenn jemand den Laden betrat. Abschaffel war überzeugt davon, daß sie nicht gerne die Tochter des Bäckers war, und infolgedessen sah er den Bäcker, wenn er seiner ansichtig wurde, auch geringschätzig an. Aber als er diesmal die Bäckerei betrat, konnte er vor Verblüffung kaum seine Bestellung aussprechen. Das Mädchen saß nicht mehr mit krummem Buckel im Nebenraum, sondern es stand hergerichtet und aufgeputzt als Verkäuferin hinter der Theke. Sie hatte sich eine schimmernde Verkäuferinnenfrisur machen lassen, und sie trug eine frisch gebügelte gelbe Verkaufskutte mit braunen Ärmel- und Krageneinfassungen. Sie hatte sich die Lippen rot angemalt und war munter und freundlich. Geben Sie mir bitte eine Marzipanrolle, sagte Abschaffel tonlos, weil er immer noch darüber überrascht war, wie plötzlich sich etwas verändern konnte. Ganz langsam wurde ihm klar, daß die Einschätzung des Mädchens, die er monatelang gehabt hatte, falsch gewesen war. Sie hatte offenbar nie darunter gelitten, wie er geglaubt hatte, die Tochter eines Bäckers zu sein; im Gegenteil, sie hatte darunter gelitten, daß der Vater sie so lange gehindert hatte, sich als Tochter eines Bäckers zu zeigen. Das durfte sie jetzt erst, und Abschaffel ärgerte sich ein wenig, daß er den Augenblick ihrer Umwandlung vom Schulmädchen zur Verkäuferin verpaßt hatte. Es mußte einen bestimmten Tag gegeben haben, an dem ihr der Vater den Durchbruch zur Selbstdarstellung als Bäckerstochter endlich gestattet hatte. Sie wickelte sorgsam Abschaffels Marzipanrolle ein, die einsfünfzig kostete. Auf Wiedersehen, rief sie ihm nach, und draußen auf der Straße war Abschaffel gerührt über die Richtigstellung seiner Phantasien über die Bäckerstochter. Er hatte sich geirrt, sogar zweimal, und in beiden Fällen war die Wahrheit viel harmloser gewesen als seine Ängste! Einmal war ein gestürztes Kind vor einem Auto wiederauferstanden, zum anderen hatte sich eine bedrückte Schülerin in eine strahlende Bäckerstochter verwandelt. Er wickelte die Marzipanrolle aus der Verpackung, und mit vollen Backen biß er den kinderfaustgroßen Marzipanklumpen nieder. Er blieb sogar auf der Straße stehen und glaubte, sein kauendes, zufriedenes Gesicht nach allen Seiten zeigen zu müssen.
     
    Hornung bewohnte mit seiner Frau und zwei Kindern eine Drei-Zimmer-Wohnung in Frankfurt-Höchst. Hornung war selbst an der Tür, als Abschaffel eintrat. Die Türen zu allen Räumen waren halb offen, und Abschaffel konnte sehen, daß es ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer und ein Kinderzimmer gab. Außerdem eine kleine Küche, ein Bad und eine Toilette. Das ist aber nett, sagte Hornung und führte Abschaffel ins Wohnzimmer. Er stellte seine Frau vor, die Abschaffel von ihrem Besuch im Büro schon kurz gesehen hatte. Um Hornung nicht zu kränken, tat er, als hätte er sie nie zuvor gesehen. Die Kinder, zwei Jungen von etwa sieben und neun Jahren, saßen vor dem Farbfernsehgerät und kauten, einen Tierfilm verfolgend, an ihren Fingernägeln. Es schien, als bemerkten sie den Besuch nicht. Frau Hornung trug eine Art Hauskleid. Sie saß in einem Sessel, aß ein Joghurt und sah ebenfalls in den Fernsehapparat. Außer der Polstermöbelgruppe mit zwei Sesseln und einer Couch gab es im Wohnzimmer noch einen kleinen Tisch mit drei Stühlen. Hornung bat, an dem kleinen Tisch

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