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Abschied aus deinem Schatten

Abschied aus deinem Schatten

Titel: Abschied aus deinem Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Vale Allen
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torkelte und sämtliche Blüten zertrat, ehe sie auf einem Polster von Primeln, Glocken- und Pantoffelblumen der Länge nach zu Boden purzelte. Regungslos schaute er zu, wie die quirlige Fünfjährige dann der Pracht vollends den Garaus machte, indem sie mit Händen und Füßen um sich schlug. Müde, mit einem Mal scheinbar um Jahre gealtert, klaubte er die Kleine aus dem Blumenbeet, setzte sie auf dem Grün ab und scheuchte sie dann sanft fort. Unbekümmert stob sie davon, während ihr Vater kummervoll das von ihr angerichtete Durcheinander begutachtete. Kurze Zeit nach diesem Vorfall hatte er von der Kanzlei aus angerufen und mitgeteilt, er werde nicht mehr nach Hause kommen.
    Wahrscheinlich war diese zeitliche Parallele zwischen Claudias Gartenfrevel und der Entscheidung ihres Vaters, die Familie zu verlassen, ein reiner Zufall. Andererseits hatte Claudia ihr ganzes Leben hindurch eine Spur der Verwüstung hinterlassen, ohne sich je auch nur im Geringsten darum zu kümmern. Ohne viel Federlesen hatte sie sich auf das Nächste gestürzt, auf das ihr begehrlicher Blick fiel. Für Ursache und Wirkung, so schien es, besaß sie kein Gespür, auch nicht für die Empfindungen anderer, und auf Beschwerden oder Empörung von Seiten ihrer Mitmenschen reagierte sie mit Unverständnis. Sie begriff schlicht und einfach nicht, weshalb sich jemand aufregte. Jenen Ausdruck blanker Verwunderung auf dem Gesicht ihrer Schwester – wie oft hatte Rowena ihn gesehen? Dutzende, hunderte Male! Hier lag auch hauptsächlich der Grund, weswegen Rowena stets auf sicheren Abstand zu Claudia Wert gelegt, ihr andererseits allerdings auch immer wieder verziehen hatte. Denn sie war überzeugt, dass Claudia an einem verhängnisvollen Defizit litt. Dort, wo bei normalen Menschen Empfindungen und Reaktionen beheimatet waren, klaffte bei der Schwester gähnende Leere. Sie kannte kein Mitgefühl, machte sich keinerlei Begriff von Freud oder Leid außer dem eigenen – ein im wahrsten Sinne des Wortes soziopathisches Verhalten. Zu diesem Schluss war Rowena gelangt, nachdem sie sämtliche in der Bibliothek zur Verfügung stehenden Quellen genutzt und die Eigenheiten ihrer Schwester bis ins Kleinste studiert hatte. Doch warum Claudia bereits mit diesem Persönlichkeitsdefizit auf die Welt gekommen war, hatte Rowena nie ergründen können. Auf die Frage, so schien es, gab es keine Antwort, so wie es auch keinen plausiblen Grund dafür gab, weshalb sie diese Welt so jäh verlassen hatte.
    Eins machte die Sache dabei kompliziert: Die Gesellschaft zeigte sich durchaus bereit, zu Gunsten von Menschen mit erkennbaren Gebrechen oder Körperbehinderungen Einschränkungen hinzunehmen. Dieselbe Bereitschaft bestand aber begreiflicherweise nicht, wenn es um Menschen ging, die der Gesellschaft nach außen hin völlig normal vorkamen. Das, was Claudia gemacht hatte, taten so genannte Normale jedoch nicht – eine Schlussfolgerung, die Rowena wieder zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen zurückführte, nämlich zu dem Videoband, das auf dem Flurfußboden lag.
    „Das ist doch alles Blödsinn!” sagte sie laut vor sich hin, während sie sich vom Fenster abwandte. Sie verspürte Hunger. Zu sehr von Tony Reid abgelenkt, um an Essen zu denken, hatte sie den Lunch ausgelassen, und auch jetzt versuchte sie, sich auf Reid zu konzentrieren, um auf andere Gedanken zu kommen. Ob er wohl an diesem Abend noch anrufen würde? Wahrscheinlich nicht. Männer taten nie das, was Frauen an ihrer Stelle tun würden. Männer hatten völlig andere Prioritäten. Ging es nach Rowena, hätte er sich atypisch verhalten, wäre seinen vorgeblichen Gefühlen gefolgt und hätte tatsächlich angerufen. Andererseits spielte es ohnehin keine Rolle, ob er sich meldete oder nicht. Das eigene Leben nach den Eingebungen und Launen anderer auszurichten konnte und wollte sie sich nicht gestatten. Also würde sie sich etwas zu essen machen, ein paar Stunden fernsehen und schließlich nach einem ausgedehnten Vollbad zu Bett gehen.
    Rowena öffnete den Kühlschrank und spähte hinein, leicht angeekelt von den Lebensmitteln, die darin lagerten. Auch im Tiefkühlfach fand sie nichts, was ihren Appetit angeregt hätte, und das Gleiche galt für den Inhalt der Küchenschränke. Erneut zündete sie sich eine Zigarette an, schritt rastlos in der Küche auf und ab und strich ab und zu die Zigarettenasche in der Küchenspüle oder dem Aschenbecher ab, während ihr die Gedanken wirr im Kopf herumwirbelten. Minute

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