Abschied aus deinem Schatten
wahr?”
„Immer noch um Längen besser, als allein zu sein!” Er prustete verhalten in sich hinein. „Also, wenn du lieber deine Ruhe willst, werde ich mich wohl mit einem Sandwich vor die Flimmerkiste setzen und mir
Meisterwerke des Theaters
ansehen.”
„Wollte ich auch.”
„Schon mal wieder was von dem Psychofuzzi gehört?”
„Er ist sogar heute Mittag im Restaurant aufgetaucht.”
„Hab ich’s dir nicht gesagt? Der hat ein Auge auf dich geworfen! Na los, raus mit den delikaten Details!”
„Es gibt keine. Brauchst gar nicht erst Haus und Hof auf die Sache zu verwetten, mein Lieber.”
„Vernehme ich da etwa das mürrische Keckern des aus allen Wolken gefallenen Nymphensittichs?”
„Keineswegs! Eher das entrüstete Gackern des erbosten Moorhuhns. Jetzt iss dein Sandwich. Ich erzähl dir später alles.”
„Na, denn!” sagte er glucksend. „Passt gut auf Euch auf, Frau Moorhuhn!”
Rowena legte auf und erhob sich, um Tee zu machen, und während sie darauf wartete, dass das Wasser kochte, rauchte sie erneut eine Zigarette. Das Telefon weiterhin im Blick, dachte sie daran, wie sie einmal, als sie in der neunten Klasse war, in der Niederlassung der Telekomgesellschaft stundenlang sämtliche Telefonbücher nach dem Namen ihres Vaters durchforstet und eine ziemliche Anzahl von G. Grahams in allen möglichen Städten des gesamten Bundesstaates angerufen hatte, darunter sogar zwei Teilnehmer namens George Graham. Doch keiner erwies sich als der George Graham, den sie meinte. Nach ihrer Anstellung in der Bibliothek hatte sie eine zweite und noch umfangreichere Suchaktion gestartet, die sich allerdings als genauso wenig ergiebig erwies wie der erste Versuch, was nur den Schluss zuließ, dass ihr Vater den Bundesstaat verlassen hatte. Danach hatte sie die Suche aufgegeben.
In Gedanken hörte sie noch ihre Mutter, die stets auf dem Standpunkt beharrt hatte, ihr Exmann habe mit seinen Kindern nichts zu tun haben wollen. Nach Rowenas Ansicht hätte er Jahre Zeit gehabt, um Kontakt aufzunehmen. Gemeldet hatte er sich jedoch nicht; vielleicht lag ihre Mutter also gar nicht so falsch mit ihrer Behauptung.
Sie kehrte mit der Tasse Tee und den Zigaretten ins Wohnzimmer zurück, machte es sich wieder bequem und starrte reglos auf die Mattscheibe. Vielleicht hätte sie Marks Angebot doch annehmen und ihn herbeten sollen. Allerdings hatte sie befürchtet, sie könne sich lächerlich machen, wenn sie ihm gestand, dass sie schon wieder eine Kassette gefunden und sich darüber aufgeregt hatte. Nun musste sie sich wohl oder übel mit ihrer Situation abfinden.
Um zehn schaltete sie den Fernseher aus, aktivierte die Alarmanlage und ließ sich ein heißes Bad ein, das sie mit Aromazusätzen verfeinerte. Eingehüllt vom dampfenden Wasser begutachtete sie die Blutergüsse an ihrem Arm, die blauen, roten und grünen Flächen, und sinnierte darüber nach, wie Penny über Jahre Geheimnisse gehütet hatte. Auch Claudia hatte genügend Geheimnisse gehabt. Es war ja nicht allzu schwer, bestimmte Informationen zurückzuhalten, sodass die Mitmenschen lediglich bestimmte, sorgsam geschönte Fakten kannten. Pennys Offenheit war immer eines der wichtigsten Elemente ihrer Freundschaft gewesen, doch diese Offenheit stellte sich nun als bloße Illusion heraus. So hintergangen worden zu sein, düpiert von einer Person ihres Vertrauens, das erbitterte Rowena zutiefst.
Erneut verfiel sie ins Grübeln. Ob Reid wohl auch auf so ein hinterhältiges Manöver aus war? Ein noch nicht ganz abgestorbener Rest von Begierde hatte dafür gesorgt, dass sie von diesem Mann träumte, dass sich ihr Unterbewusstsein in Fantasieszenarien verlor. Wie man dieses Gefühl gänzlich abtöten konnte, wusste sie allerdings nicht.
Dass sie am besten ohne Männer auskam, hatten die drei Jahre mit Gil Prasker ihr deutlich klar gemacht – Jahre, in denen von Anfang an ohnehin vage Pläne stets in letzter Minute gekippt wurden, Jahre mit immer lustloseren Abenden, an denen sie sich nichts mehr zu sagen hatten, sodass Rowena mehr und mehr zu der Einsicht gelangte, dass sie sich nicht an einen Menschen, sondern vielmehr an ein Regelwerk band. Von jener Zeit an hatte sie die Freiheit, Bekannte spontan zum Dinner einladen zu können, in vollen Zügen genossen, weil die vorherige Rücksprache mit ihrem Lebensgefährten, der wie selbstverständlich davon ausging, dass seine Vorhaben Vorrang hatten, nun endgültig wegfiel. Zudem war ihr ein Leben ganz ohne Sex
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