Abschied aus deinem Schatten
für Minute verstrich, während Rowenas Blick zwischen dem Telefon und der Kassette im Flur hin und her wanderte, bis die Zigarette auf den Filter heruntergeglimmt war und die Kippe schließlich im Aschenbecher landete.
Warum, so grübelte sie, sollte Reid mich gerade jetzt anrufen, um mich vor der Versuchung zu retten? Schließlich teilen wir uns nicht mein Gehirn oder meine Impulse! Sie gefallen mir. So einfach ist das. Möglich, dass seine Worte bloß eine Angelschnur waren, mit einem Haken am Ende, damit er sie an Land ziehen konnte. Andererseits hatte er ihr auch den Rückzug angeboten. Und dieses Angebot hätte sie annehmen sollen! Dann würde sie jetzt nicht verzweifelt auf seinen Anruf warten, damit er sie aus der Verlockung erlöste.
Wozu, Claudia, musstest du auch deine erotischen Eroberungen im Bild festhalten? Warum musstest du mich mit diesem illustrierten Erbe peinigen? Jedes Mal, wenn ich kurz davor stand, glücklich zu sein, wurde mein Glück durch dein Tun zerstört, mein ganzes Leben lang! Mein Kopf gleicht einem alten Warenlager, randvoll mit schlimmen Erinnerungen und unausgesprochenen Anschuldigungen!
Wie sie es hasste, sich dermaßen in etwas hineinzusteigern, zumal sie im Grunde nichts weiter wollte, als in Ruhe gelassen zu werden! Keine Videos, keine Männer! Und doch: Die von Reid ausgehende Aura der Einsamkeit, seine Komplimente – all das erschien ihr wie ein Geschenk. Als Claudias Schwester hatte sie indessen gelernt, dass es besser war, eine ruhiges, überschaubares Leben zu führen, statt sich auf die verwirrenden Bedürfnisse der Männer einzulassen, auch wenn ein solches Leben nur die Hälfte wert war. Lieber die tagtäglichen kleinen Freuden genießen, statt wertvolle Zeit zu vergeuden, indem man sich eine enge Beziehung herbeisehnte, die sich letztlich doch als flüchtig und unvollkommen erwies.
Was mache ich da eigentlich? fragte sie sich, ganz benommen im Kopf nach zu vielen Zigaretten, zu viel Koffein und zu wenig Kalorien. Entschlossen, sich die noch zerbrechliche Verbindung zu Reid nicht von ihrer Schwester kaputtmachen zu lassen, schritt sie energisch über den Flur, fischte die Kassette vom Boden und trug sie hinaus zum Müllcontainer. Wieder im Haus, wusch sie sich zufrieden die Hände und setzte sich mit einem Salat sowie einem Saft, den sie aus dem Kühlschrank genommen hatte, vor den Fernseher, um sich
Sixty Minutes
anzusehen.
Den ganzen Abend wurde sie das unbehagliche Gefühl nicht los, als stünde sie gleichsam beobachtend neben sich. In einem Winkel direkt unter der Decke schwebend, schaute sie von ihrer Warte zu, wie sie auf dem Sofa vor dem Fernseher saß und während einer Werbepause die Toilette aufsuchte, wie sie die Normalität regelrecht parodierte und so tat, als gäbe es das Video draußen im Müll überhaupt nicht.
Sie war so durcheinander, dass ihr kaum bewusst wurde, welche Sendungen sie überhaupt verfolgte. Als dann um Viertel vor neun tatsächlich das Telefon läutete, fuhr sie zunächst erschreckt zusammen, lächelte aber sofort. Also doch! Reids Anruf! Mit einem Mal war sie wieder in Hochstimmung und griff zum Hörer.
„Deine Stimme klingt richtig sexy am Telefon! Wusstest du das?”
„Nein, aber es freut mich zu hören.”
„Finde ich tatsächlich. Und wie geht’s dir heute Abend, mein Herz?”
„Gut”, erwiderte sie, bemüht, nicht zu enttäuscht zu klingen. Von himmelhoch jauchzend war sie dermaßen jäh auf tief betrübt abgestürzt, dass ihr ganz schwindlig war. „Und du? Wie geht’s dir?”
„Prima. Bisschen Gesellschaft gefällig?”
„Danke, aber ich glaube, ich werde heute nicht alt.” Sie traute sich nicht, Mark unter die Augen zu treten. Er merkte sofort, wenn etwas nicht stimmte, und zu einer Erklärung wäre sie nicht in der Lage. „Wie war’s heute Nachmittag mit Richard?”
„Ach, nicht übel. Wir waren in Westport zum Lunch und danach im Kino. Irgendwie komisch, weißt du – vor noch gar nicht so langer Zeit hätte ich nicht gedacht, dass er meine Kragenweite wäre. Scheint aber so, als hätte sich meine Vorstellung geändert. Er ist nicht eben eine Offenbarung, aber man fühlt sich wohl in seiner Gesellschaft, und momentan ist das für mich genau das Richtige. Mit so einem unternehmungslustigen jungen Spund könnte ich überhaupt nichts anfangen. Dazu brächte ich die Energie gar nicht mehr auf. Schwaches Bild, was?”
„Du Ärmster! Macht keinen Spaß, wenn man in die Jahre kommt, nicht
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