Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Abschied aus deinem Schatten

Abschied aus deinem Schatten

Titel: Abschied aus deinem Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Vale Allen
Vom Netzwerk:
ein Blinder tun würde, um ihn mit den Fingerspitzen zu erfühlen.
Oh, Vorsicht!
mahnte ihre innere Stimme. Bei ihm stehst du ständig einen Schritt vor dem Abgrund! Ein winziger Stoß nur, und du sagst und tust Dinge, die du später bitter bereust!
    „Es jagt mir zwar eine Heidenangst ein”, sagte Rowena von der Türschwelle aus, „aber ich möchte nicht, dass Sie aufgeben. Versprechen kann ich allerdings nichts. Ich habe große Angst vor einem Reinfall.” Sie hätte ihre Empfindungen gern anders ausgedrückt und rang nach den passenden Worten, doch vergebens. „Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.”
    Er drehte sich ein wenig zu Seite und sah sie an, den Ellbogen auf die Stuhllehne gestützt. „Also, mehr kann man beim besten Willen nicht verlangen.” Er sah erleichtert und auf jungenhafte Weise erfreut aus. „Von einem Reinfall wäre ich auch nicht gerade begeistert. Ist es nicht schade, dass man bei Menschen keine Garantie kriegt – so wie bei Autos oder Elektrogeräten?”
    „Ja, zu schade”, pflichtete sie ihm bei. „Nun muss ich aber wirklich …”
    „Sicher!”
    Obwohl sie innerlich bebte, ließ sie es geschehen, dass sich ihre Blicke trafen. Merkwürdig, doch ihr war, als sei dieser Blickkontakt intimer als der verbale Austausch zuvor. Sie spürte es in den Adern, als stünde sie unter Strom. In einem letzten, impulsiven Schub eilte sie quer über die Terrasse, nahm sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn auf den Mund, und während er wie vom Donner gerührt dasaß, hastete sie atemlos ins Lokal zurück.
    „Ich fahre heim”, teilte sie Ian mit, als sie mit ihrer Handtasche das Büro verließ.
    „Soll irgendetwas von der Rechnung für Ihren Bekannten aufs Haus gehen, Rowena?”
    „Der Kaffee”, sagte sie und hatte die Autoschlüssel bereits in der Hand. Denn sie wollte Reid nicht noch einmal unter die Augen treten! Später könnte sie immer noch so tun, als sei nichts passiert – falls sie es wollte.
    „Tschüs! Schönen Feierabend!” wünschte Ian fröhlich.
    Kip winkte, als sie in aller Eile quer durchs Restaurant auf die Eingangstür zuging. Benommen grüßte sie zurück, froh, endlich fliehen zu können, ein hektisches, euphorisches Hämmern in der Brust.
    Zu Hause angekommen, konnte sie sich an die Heimfahrt nicht mehr erinnern, als sei sie per Autopilot gefahren – ein riskantes Unternehmen. Mehr Vorsicht war angesagt. Jetzt allerdings schwebte sie geradezu auf einer Adrenalinwolke. Vor sich hin summend, jagte sie die Treppe hinauf, schnappte sich die Wäsche und trug sie in den Keller hinunter. Kaum lief die erste Waschmaschinenladung mit der weißen Wäsche, wollte Rowena sofort wieder nach oben eilen, um sich umzuziehen, als plötzlich ihr Blick auf die Kartons fiel, die in der Mitte des alten Hobbyraums standen. Nur mal schnell nachsehen, sagte sie sich, und setzte sich an den Bridgetisch, um die Kiste, eine von jenen mit Jeannes Unterlagen, zu durchforsten. Sie enthielt nichts als Kontoauszüge, insgesamt über einen Zeitraum von gut zehn Jahren. Rowena ließ sie umgehend in den Papiermüll wandern und öffnete einen weiteren Karton. Ganz oben lag ein prall gefüllter brauner Umschlag, der sämtliche Schulzeugnisse enthielt, welche die drei Geschwister in ihrer Schulzeit nach Hause gebracht hatten. Rowena verschlug es die Sprache. Dass ihre Mutter solchen Wert auf Zeugnisse gelegt und diese sogar gesammelt hatte, hätte sie nie für möglich gehalten.
    In weiteren Umschlägen fanden sich die künstlerischen Versuche der drei Kinder sowie allerlei Karten: zu Weihnachten, zum Geburtstag, zum Valentins- und Muttertag, allesamt versehen mit den dazugehörigen Zeilen – Druckbuchstaben von Cary, krakeliges Geschreibsel von Claudia und Rowenas Grüße in sauberer Schönschrift. Offenbar hatte Jeanne jeden noch so kleinen von ihren Sprösslingen produzierten Papierfetzen aufbewahrt, angefangen von Buntstiftzeichnungen aus dem Kindergarten bis hin zu recht brauchbaren Modeskizzen, die Claudia in der Highschool entworfen hatte.
    Rowena schaute sich alles an, ganz besonders Carys Zeichnungen. Was war das für eine Frau, so fragte sie sich, die ihre Kinder einerseits mit nahezu fahrlässiger Gleichgültigkeit behandelt, andererseits jedoch alles, was diese einmal angefertigt hatten, wie ein Eichhörnchen gehortet hatte? Diese Art von Zuwendung leuchtete sicher nicht auf Anhieb ein, war aber dennoch positiv zu werten. Nachdenklich betrachtete Rowena die Bilder; die Farben schienen so

Weitere Kostenlose Bücher