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Abschied aus deinem Schatten

Abschied aus deinem Schatten

Titel: Abschied aus deinem Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Vale Allen
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frisch, als seien sie erst Stunden oder Tage zuvor aufs Papier gebracht worden, und vor Rowenas geistigem Auge tauchte eine Szene auf: sie selbst und ihr Bruder, bäuchlings auf dem Boden des Wohnzimmers, auf die Ellbogen gestützt, eifrig malend und munter plappernd, vor sich je einen großen Zeichenblock und dazu in Reichweite eine Box mit vierundsechzig nagelneuen Buntstiften. Rowena selbst musste etwa sieben, ihr Bruder zehn gewesen sein. Rowenas Zeichnung zeigte ein kastenförmiges Haus mit Schornstein obendrauf, aus dem sich eine Rauchfahne zum Himmel wand, darüber eine großer, gelber Sonnenball sowie Wölkchen und winkelförmige Vögel. Ums Haus herum wuchsen Blumen; zur Haustür schlängelte sich ein Pfad, und auf dem Rasen gleich neben dem Weg stand die Familie, die hier wohnte: ein Vater nebst seinen zwei Kindern. Auf Carys Bild wellten sich blaue Wogen, darauf eine Nussschale mit weißem Dreiecksegel. Hinten im Boot, die Hand an der Ruderpinne, hockte ein strahlendes Strichmännchen in blauer Hose und gelber Schwimmweste, und über allem spannte sich wieder der Himmel mit dicker, goldener Sonne und bauschigen Wolkenbällchen.
    Nachdem sie alles wieder sorgsam in die Umschläge gesteckt und diese in der Kiste verstaut hatte, stand Rowena auf und lud die weiße Wäsche in den Trockner. Sobald die zweite Ladung in die Waschmaschine gestopft war, schaltete Rowena die Leuchte auf dem Bridgetisch aus und lief nach oben, um sich umzuziehen. Erneut vor sich hin summend, legte sie das moosgrüne Leinenkleid ab und hängte es über einen gepolsterten Bügel. Sie fühlte sich wunderbar wohl, während sie die Seidendessous abstreifte und in den Wäschekorb wandern ließ. Danach schlüpfte sie in ein altes Baumwollhöschen und tastete auf den über den Kleiderstangen angebrachten Ablagen nach einem weiten gelben T-Shirt, das sie vor langer Zeit einmal auf einem Flohmarkt in South Norwalk erstanden hatte. Sie hatte es nach dem Einbruch zurück auf einen der Böden gelegt; das wusste sie ganz genau. Plötzlich dachte sie an Reids weichen Mund, und sofort rann ihr ein Schauer durch den Bauch. Schluss damit! Sie stellte sich auf die Sitzfläche des Klappstuhls, den sie aus dem Schlafzimmer geholt hatte, um besser auf die Regalbretter schauen zu können.
    Doch Reid ging ihr nicht aus dem Kopf.
Falls er wieder anruft und sich mit mir treffen will, landen wir unweigerlich im Bett!
Nach der Aussprache auf der Restaurantterrasse, bei der sie sich zu einer geradezu tollkühnen Geste aufgerafft hatte, die einzige bisher in ihrem Leben, konnte sie ihn ja kaum noch abweisen! Großer Gott! Sie hatte wirklich und wahrhaftig sein Gesicht umfasst und ihn geküsst! Noch immer spürte sie den Druck seiner Lippen auf den ihren, den Geschmack von Kaffee und Alkohol.
Hör auf! Du gerätst noch völlig aus der Fassung!
    Das gesuchte Kleidungsstück fand sich ganz hinten auf dem linken Ablageboden. Schon streckte Rowena die Hand nach dem T-Shirt aus, als sie jäh innehielt, sich zur Seite wandte und zunächst den Blick an der rechten, dann an der linken Wand des Ankleidezimmers herunterwandern ließ. War es eine optische Täuschung, oder hing das linke Brett tiefer? Mit dem T-Shirt in der Hand stieg Rowena vom Stuhl herab, um danach jeden einzelnen Einlegeboden von unten in Augenschein zu nehmen. Auf den ersten Blick sah es so aus, als seien beide Seiten auf gleicher Höhe, irgendwie jedoch auch wieder nicht. Sie zog das T-Shirt sowie ein Paar weite Shorts über und versuchte, der Ungleichheit bei den Böden auf den Grund zu kommen.
    Schließlich ging sie hinunter in die Küche, holte das Maßband und eilte, zwei Stufen auf einmal nehmend, wieder die Treppe hinauf. Die Unterseite der rechten Ablage wies eine Tiefe von fünfunddreißig Zentimetern auf, die der linken hingegen eine von fünfzig. Auf der Oberseite maßen aber beide Böden fünfzig Zentimeter in der Tiefe. Wieso dieser Unterschied von fünfzehn Zentimetern zwischen Ober- und Unterseite? Wie konnte das sein?
    Sie streifte die Bügel mit den Kleidungsstücken beiseite und untersuchte das dahinter liegende Wandstück. Hätte sie nicht ganz bewusst danach gesucht – die Fuge, beziehungsweise die Tatsache, dass man es hier, im Gegensatz zur gegenüberliegenden Seite, nicht mit Putz, sondern mit angestrichenem Holz zu tun hatte, wäre ihr nie aufgefallen. Bei näherem Hinsehen stellte Rowena fest, dass diese Falz in Wirklichkeit die Nahtstelle zwischen einer Paneele und dem Putz

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