Abschied aus deinem Schatten
Freundinnen. Und dann stellt sich heraus, dass sie auch mit meinen Telefonanrufen hausieren ging, quer durch die ganze Stadt! Oh Gott! Ich kann einfach nicht glauben, dass sie dazu fähig war!”
Rowena hingegen fiel es nicht schwer, das zu glauben. Claudia hatte über keinerlei Zurückhaltung verfügt, wenn es darum ging, Dinge, die sie ihr anvertraut hatte, mit anderen zu teilen. Ihre Freundinnen hatte sie genauso schamlos behandelt. Zudem hatten sie nur ihr allein zu gehören, und sie ließ es nur selten zu, dass sie sich untereinander treffen und sich eventuell über Claudia austauschen konnten. Sie befasste sich stets ausschließlich mit Einzelpersonen und präsentierte sich allen jedes Mal anders, immer so, wie sie es nach ihrer ausgeklügelten Taktik für erforderlich hielt. So schaffte sie es, dass jede Einzelne sich privilegiert fühlte, nur weil sie für würdig genug erachtete wurde, Claudias Freundin zu sein. Es war ein beeindruckender Jonglierakt, aber irgendwann ließ sie den Ball doch fallen. Und dann stellte sie fest, dass sie von allen fallen gelassen wurde.
Eigenartig war allerdings, dass das, was für ihr Privatleben ein gehöriges Risiko darstellte, bezüglich ihres Lokals gut funktionierte. Es war Claudia gelungen, ihren Gästen das Gefühl zu vermitteln, sie seien etwas Besonderes, und deshalb kamen sie immer wieder, um sich im Glanz ihrer Zuwendung zu sonnen. Gleich von Anfang an hatte sich das „Le Rendezvous” rasch durch reine Mund-zu-Mund-Propaganda zu einem sehr gefragten Restaurant gemacht.
Vom Spätnachmittag bis zum frühen Abend war Rowena pausenlos unterwegs, wechselte einige Worte mit diesem oder jenem Trauergast und fragte sich die ganze Zeit, ob die Flasche Whisky, die man bei der Schwester gefunden hatte, ihr womöglich doch als Mittel zum Zweck gedient hatte. Vielleicht hatte Claudia in den letzten Augenblicken ihres Lebens ihre Maske fallen lassen und wahllos nach allem gegriffen, was sich anbot. Dies war zwar vorstellbar, aber so recht glauben mochte Rowena es trotzdem nicht.
Als sie endlich wieder zu Hause war, zog Rowena sich aus und ging sofort zu Bett. Kurz vor dem Einschlafen fiel ihr ein, dass Tony Reid nicht auf ihre Nachricht reagiert und auch ihrer Kenntnis nach nicht am Empfang im Trauerhaus teilgenommen hatte. Sie musste ihn wohl noch einmal anrufen und einen Gesprächstermin vereinbaren, denn es lag ihr sehr viel daran, mit dem letzten Liebhaber ihrer Schwester zu sprechen.
Sie nahm einen Monat Urlaub in der Bibliothek, um Claudias Angelegenheiten zu regeln, und zog vorübergehend in ihr altes Kinderzimmer im Elternhaus in Norwalk.
Nachdem der Notar und der beeidigte Wirtschaftsprüfer sich daran gemacht hatten, das Anwesen für die gerichtliche Testamentsbestätigung vorzubereiten, und nachdem Kopien des Totenscheins an die Versicherungen gegangen waren, sammelte Rowena alles zusammen, was an Papieren auf und in Claudias Schreibtisch herumlag, und untersuchte sie dann auf etwaige Hinweise, die Rückschlüsse auf die Frage zuließen, warum ihre Schwester sich umgebracht haben könnte.
Sie fand nichts. Eine Woche nach dem mutmaßlichen Selbstmord wagte sie sich, mental gewappnet, in die Schlafzimmersuite, um ihre Suche mit der Überprüfung von Claudias Habe fortzusetzen.
Der Anblick des zerwühlten Bettzeugs und der schwache, aber dennoch untrügliche Leichengeruch bedrückten sie, und sie riss die Fensterflügel weit auf, um die eisige Luft ins Zimmer zu lassen. Dann zog sie das Bett ab und stopfte das Bettzeug in zwei robuste Müllbeutel. Es war ein Jammer um die Sachen, aber sie noch weiter zu benutzen, wäre undenkbar gewesen. Sie schleppte die Beutel nach draußen, packte sie in den Wagen und fuhr damit geradewegs zur Altkleidersammelstelle.
Als sie später mit einer Scheibe Toast und einer Tasse Tee am Marmortisch in der Küche saß und die veralteten Gerätschaften und Armaturen begutachtete, fiel ihr auf, wie renovierungsbedürftig der Raum war. Für die Badezimmer und Toiletten galt das Gleiche. Ansonsten war die Bausubstanz des Hauses solide. Claudia hatte das Gebäude nicht verkommen lassen, sondern es nur im Großen und Ganzen in seinem alten Zustand belassen. Ihr persönlicher Verschönerungsbeitrag hatte einzig in einem Großbildfernseher, einer hochmodernen Stereoanlage sowie neuen Schonbezügen für die alte Wohnzimmergarnitur bestanden. Die Küchenschränke beherbergten immer noch Jeannes Porzellanservice, an den Wänden hingen nach wie
Weitere Kostenlose Bücher