Abschied aus deinem Schatten
recht?”
„Aber natürlich. Außerdem habe ich Penny eine Nachricht hinterlassen und sie gebeten, mich hier nicht mehr anzurufen.”
„Gut.” Nachdem er die Zigarette ausgedrückt hatte, sah er Rowena direkt in die Augen. „Wissen Sie, vermutlich könnten wir beide mal eine Auszeit gebrauchen”, stellte er diplomatisch fest. „Mein letzter Urlaub jedenfalls ist eine Ewigkeit her. Und was Sie angeht – Sie haben sich, seit Sie hier sind, auch kaum einmal Zeit für sich genommen.”
„Warum nehmen Sie sich dann nicht ein paar Wochen frei?” regte sie an.
„Wenn Sie meinen, Sie kommen hier allein zurecht, wäre das tatsächlich zu überlegen. Vielleicht Ende August, vor dem Labor-Day-Wochenende. Dann ist üblicherweise nicht so viel los.”
„Das würde passen.”
„Und Sie, meine Liebe? Wann machen Sie einmal Ferien?”
„Darüber muss ich erst nachdenken.”
Er langte über den Schreibtisch und bedeckte ihre Hand mit der seinen. „Selbst beim besten Arbeitsverhältnis kommt es mitunter zu unterschiedlichen Auffassungen. Das bedeutet nicht, dass man sich nicht weiterhin schätzt und als Freunde achtet. Es tut mir Leid, dass ich Sie verärgert habe, denn ich schätze Sie sehr.”
„Auch mir tut es Leid.”
Verblüfft zog er die Brauen zusammen, als wisse er nicht recht, wie die Bemerkung zu interpretieren sei, und zog schließlich die Hand zurück. „Dann will ich mal wieder …”
„Ja. Ich komme gleich nach.”
„Lassen Sie sich ruhig Zeit.” Er bedachte sie mit einem versöhnlichen Lächeln, bevor er hinausging.
Endlich warf Rowena einen Blick auf den Notizzettel. „Anruf von Dr. Reid. Rückruf nicht nötig”, stand darauf.
Sie ließ den dröhnenden Kopf auf den Schreibtisch sinken und schluchzte in Ians Taschentuch. Dann ging sie nach unten in die Damentoilette, wo sie zwei Tylenol-Kapseln mit einer Hand voll Wasser hinunterspülte. Nachdem sie flüchtig ihr Make-up in Ordnung gebracht hatte, ohne einen allzu genauen Blick in den Spiegel zu riskieren, begab sie sich wieder an die Arbeit.
Zwei Stunden später war sie zu Hause und mixte sich einen schwachen Wodka Tonic, den sie mit nach oben nahm, um ihn bei einem heißen Vollbad zu trinken. Die Blutergüsse hatten mittlerweile eine gelbliche Färbung angenommen. Während Rowena an sich herunterschaute und die Hand bedächtig am ganzen Körper entlanggleiten ließ, dachte sie zurück an einen Abend, an dem Claudia zu ihr ins Zimmer gestürmt kam, exakt in dem Moment, als Rowena sich gerade auszog, um schlafen zu gehen. „Echt gemein, so was”, hatte ihre fünfzehnjährige Schwester genörgelt, wobei sie Rowena von Kopf bis Fuß musterte. „Du hast nicht nur Köpfchen, sondern Busen dazu!”
Zum x-ten Mal hatte Rowena zu ihrer Verblüffung gemerkt, welch himmelweiter Unterschied zwischen dem bestand, was sie und Claudia als wichtig erachteten. Dennoch war sie von Claudias Sehnsucht nach einer ganz eigenen Freiheit tief angerührt gewesen, von dem Trieb nach dem perfekten Äußeren, das ihr die Anerkennung und Aufmerksamkeit verschaffen sollte, die sie wie eine Droge brauchte. Nachdem sie rasch in den Pyjama geschlüpft war, hatte Rowena dann ihre Schwester tröstend in die Arme genommen. „Wenn du sie dir sehnlichst genug wünscht, wirst du sie dir gewiss eines Tages kaufen können, und zwar in jeder beliebigen Form und Größe.” Und tatsächlich! Im Laufe der Zeit hatte sich Claudia – neben einigen kleineren Verschönerungen – ein Paar neue, verschönerte Brüste zugelegt, die ihr ausnehmend gut gefielen und sich als erheblich bessere Investition als alles andere erwiesen, thronten sie doch für alle Ewigkeit unabänderlich üppig und fest vor ihrem Oberkörper.
Rowena nippte an ihrem Drink und ließ sich Ians Vorschlag durch den Kopf gehen, während das heiße Wasser die von den Kopfschmerzen herrührenden Verspannungen in Nacken- und Schultermuskulatur löste. Vielleicht konnte sie tatsächlich im September eine Woche Urlaub nehmen und hinauf nach Vermont fahren, um nach ihrem Vater zu forschen. Sie wollte ihn unbedingt treffen, seine Kinder kennen lernen, ihre Halbgeschwister, die nunmehr auch schon Mitte zwanzig sein mussten, dazu ihre Stiefmutter, die George Graham die Liebe und Achtung geschenkt hatte, die ihm so lange versagt geblieben war.
Als das Wasser lauwarm und das Glas leer war, schlüpfte Rowena in weite Bermudashorts, T-Shirt und Mokassins, stellte den Ton am Telefon ab und drehte die Lautstärke des
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