Abschied aus deinem Schatten
einspringen? Unter der Woche mache ich den Empfang noch problemlos nebenher. Am Wochenende allerdings geht das nicht, da habe ich zu viel zu tun. Es ist wirklich nichts dabei, und Sie müssen auch höchstens vier Stunden bleiben. Ich hatte eigentlich vorgehabt, mit Ihnen über eine neue Empfangskraft zu sprechen, aber es muss mir wohl entfallen sein.”
„Was müsste ich denn tun?”
„Sie machen die Begrüßung, lächeln viel, bringen die Gäste zu ihren Tisch, reichen ihnen die Speisekarte und wünschen ihnen bon appétit. Hin und wieder gehen Sie hin und fragen, ob auch alles zu ihrer Zufriedenheit ist. Kinderleicht! Unsere Gäste erwarten eben, dass man sie verwöhnt, wie Sie ja wissen. Und das schaffen Sie mit links, davon bin ich überzeugt.”
„Na gut. Wann soll ich da sein?”
„Ich bin Ihnen äußerst dankbar, Rowena! Kommen Sie bitte etwas früher, sagen wir, so gegen sechs. Dann können wir Sie noch in die Sitzordnung einweisen und Ihnen zeigen, wo sich alles befindet.”
„Alles klar. Bis dann!”
Die Aussicht, in die Domäne ihrer Schwester eindringen zu können, sorgte bei ihr schlagartig für ein Gefühl gespannter Erwartung. Vielleicht könnte sie Claudia ja von einer anderen Seite kennen lernen, wenn sie in deren Restaurant als ihre Vertreterin fungierte. Außerdem stellte die Frage, ob sie eine akzeptable Ersatzkraft abgeben würde, eine Herausforderung für sie dar. Sicher, Claudias Attraktivität, ihren Zauber, ihr ausgeprägtes Ego und ihren Stil, all das konnte sie leider Gottes nicht vorweisen. Doch das Personal war ihr vertraut, und der Umgang mit den Gästen machte ihr durchaus Spaß. Ihrem absichtlich unauffälligen Äußeren zum Trotz trat sie nicht ohne Selbstbewusstsein auf und vertraute voll und ganz auf ihre Intelligenz. Da ihr allerdings noch etwas Passendes zum Anziehen fehlte, ging sie ins Ankleidezimmer zurück.
Von einem Augenblick auf den nächsten ließ sie sich gefangen nehmen und vertiefte sich in Claudias Garderobe wie ein Kind, das sich verkleiden will. Ihre Wahl fiel schließlich auf ein schlichtes, aber schickes schwarzes Kleid mit einem raffiniertem Ausschnitt und einer Taillenpartie mit breitem Gürtel. Danach ging sie daran, den Inhalt des Wäscheschranks zu untersuchen.
Sie stieß auf eine Schublade voll teurer Designerstrümpfe und verzog das Gesicht, als sie das Preisschild auf der noch verpackten dunkelgrauen Strumpfhose sah, die sie sich heraussuchte. Fünfzig Dollar hatte das gute Stück gekostet. Glatte Seidendessous, elegante schwarze Wildlederpumps – fast kam sie sich dekadent vor in Claudias Sachen auf dem Weg zu deren Restaurant. Doch sie befand sich in Hochstimmung, wie sonst nur am Vorabend einer ihrer Urlaubsreisen in fremde Länder.
Das Personal legte gerade letzte Hand an, als Rowena eintraf. Ian begrüßte sie herzlich. „Sie sehen aber hübsch aus”, sagte er, worauf sie geschmeichelt errötete. Während er ihren Mantel und ihre Handtasche ins Büro brachte, sah Rowena sich im Lokal um, das sich ihr zum ersten Mal ohne Gäste präsentierte. Das „Le Rendezvous” machte einen einladenden Eindruck: indirekte Beleuchtung, vier große Ölgemälde von abstrakten Impressionisten an den hellgrau gestrichenen Wänden; dunkler, beinahe schwarzer Teppichboden, der den Anschein erweckte, als schwebe alles im Raum, dazu gestärkte weiße Tischwäsche und auf jedem Tisch eine kleine Vase mit frischem Blumenschmuck sowie eine niedrige, runde Kerze in poliertem Messingständer. Hier und da waren übergroße Glasbehälter mit Schnittblumen aufgestellt.
Terry, der Barkeeper, sortierte gerade die Musikkassetten für den Abend. Aus den kleinen Lautsprecherboxen, die in den Ecken unter der Decke angebracht waren, tönten die Klänge von Stephane Grapellis Geige. Mae, die Kellnerin, sowie ihre beiden Kollegen John und Doug, die hastig am anderen Ende der Theke einen kleinen Imbiss hinunterschlangen, winkten Rowena zu. Luke und Mikey, die Hilfskellner, füllten Butter in Schälchen und schnitten runde, knusprige Weißbrotstangen in Scheiben.
Rowena stieß die Tür zur Küche auf und grüßte Philippe, den Küchenchef, sowie seine Assistentin Jill, zuständig für Backwaren, Salate und Desserts. Danach wurde es Zeit, sich mit Ian zusammenzusetzen, der ihr den Lokalgrundriss, die Nummerierung der Tische und die Reservierungskladde erläuterte.
„Einfacher geht es nicht. Sie lassen sich den Namen geben, streichen ihn in der Kladde durch, bitten die
Weitere Kostenlose Bücher