Abschied aus deinem Schatten
sich ihren Anteil am Trinkgeld genommen.”
„Na schön, aber ich mache das nicht”, sagte Rowena. „Okay?”
„Wir haben fast nie an der Bar bedient”, warf Ian leise ein.
„Wieso nicht?” erkundigte Rowena sich.
„Weil Claudia nicht viel Wert aufs Bedienen legte.” Er warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu. Sie hatte verstanden. Ihre Schwester hatte es wahrscheinlich als unter ihrer Würde betrachtet, den Gästen aufzutragen, und, falls es dann doch einmal vorkam, sicher eine Show daraus gemacht.
„Vielleicht sollten wir das ändern”, schlug Rowena vor. „Fünfzehn bis zwanzig zusätzliche Bestellungen pro Wochenende bringen doch jedem von uns mehr ein!” Es mochte albern sein, doch sie war richtiggehend stolz darauf, schon ein bisschen gelernt zu haben.
„Stimmt”, räumte Ian ein. „Dagegen würde wohl niemand von uns etwas einwenden. Nur jemanden zu finden, der am Wochenende den Empfang übernimmt und gleichzeitig bedient, wenn Not am Mann ist – das ist das Problem!”
„Lassen Sie mich das doch vorläufig übernehmen”, bot Rowena an. „Wenn ich schon die neue Eigentümerin werde, dann sollte ich auch wissen, wie der Laden läuft!”
„Das ist Ihnen selbstverständlich unbenommen.” Ian klang höflich, doch eine leichte Schärfe im Ton war nicht zu überhören.
„Haben Sie etwa was dagegen, Ian?”
„Nicht im Geringsten. Wie Sie bereits erwähnten, wird Ihnen über kurz oder lang ohnehin alles gehören.” Er zündete sich umständlich eine Zigarette an und hielt Rowena dann die Schachtel hin, als habe er seine Unachtsamkeit gerade erst bemerkt. Rowena hätte gern angenommen, lehnte aber dankend ab. Plötzlich lag eine unterschwellige Spannung in der Luft.
„Sie haben das toll hingekriegt heute Abend”, sagte Mae, ein hübscher Rotschopf.
Die beiden Kollegen pflichteten ihr bei. „Spitze, wirklich!” Dann leerten sie schnell ihre Weingläser und machten sich fertig zum Aufbruch.
Ians plötzliche Kühle und der überstürzte Rückzug des übrigen Personals setzten Rowena, die sich jetzt mehr von Claudias energischer Selbstsicherheit gewünscht hätte, in Erstaunen. Sie hätte gern gewusst, welche Laus Ian über die Leber gelaufen war, traute sich jedoch nicht, ihn zu fragen, aus Furcht, er könne ihr als Antwort möglicherweise ihre Mängel vorhalten. Natürlich war das äußerst unwahrscheinlich. Doch selbst jetzt noch, mit ihren knapp vierzig Jahren, fürchtete sie sich vor offenen Aussprachen, und es war ihr bislang nicht gelungen, diese Angst zu überwinden. Das galt auch für die Vorsicht, die sie sich angewöhnt hatte, weil ihre Mutter oder ihre Schwester jedes Mal, wenn sie eine einfache Frage gestellt hatte, über sie hergefallen waren. Verärgert ob ihres Mangels an Durchsetzungskraft, ging sie ins Büro, um sich Mantel und Handtasche zu holen.
Ian, der sie zum Auto begleitete, war die Freundlichkeit in Person, sodass Rowena schon glaubte, sich seinen jähen Stimmungswandel nur eingebildet zu haben. Er bedankte sich nochmals für ihre Hilfe und fragte, ob sie auch tatsächlich am folgenden Morgen wiederkommen wolle. Als sie die Frage bejahte, meinte er, es sei wohl am besten, wenn sie vor zehn Uhr eintreffen könne.
„Fahren Sie vorsichtig!” bat er und wartete ab, bis sie verschwunden war, ehe er zu seinem Wagen ging.
Während der Heimfahrt ließ Rowena den Abend Revue passieren. Die Beine schmerzten ihr vom stundenlangen Herumlaufen in den ungewohnten Stöckelschuhen, doch sie hatte wenig Neues über Claudia erfahren, und sie wünschte auch, sie hätte den Mut aufgebracht, Ian nach dem Grund seiner Schroffheit zu fragen. Doch alles in allem hatte sie ihre neue Rolle durchaus genossen.
4. KAPITEL
S eit der neunten Klasse waren Rowena und Penny schon befreundet. Mit vierzehn war Penny groß, schlank und sehr hübsch gewesen, mit dichtem, aschblondem Haar, großen, weit auseinander stehenden braunen Augen, kecker Nase und vollem Mund. Nach der Highschool hatten die zwei sich zwar an unterschiedlichen Colleges eingeschrieben, allerdings nach dem Abschluss, ohne sich jemals dahingehend abgesprochen zu haben, noch weiterstudiert und beide ihren Magister in Bibliothekswissenschaften erworben. Rein zufällig waren sie nach einiger Zeit als Bibliothekarinnen in der Magnusson-Bibliothek in Stamford gelandet.
Penny hatte im Anschluss an ihr Examen geheiratet und elf Monate später ihr Söhnchen Kip zur Welt gebracht. Während der Schwangerschaft hatte sie
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