Abschied aus deinem Schatten
vor dieselben faden Ölbilder, und sowohl Keller als auch Dachboden enthielten immer noch den angestaubten Krimskrams, für den schon jahrzehntelang niemand mehr Verwendung gefunden hatte.
Rowena betrachtete die großzügig bemessene Küche und überlegte, ob sie das Haus nicht durch ein Bauunternehmen komplett renovieren lassen und danach einziehen sollte. Die Vorstellung, sie könne über eine eigene Waschmaschine und einen eigenen Wäschetrockner verfügen sowie über ein großes Esszimmer zum Bewirten von Freunden und Bekannten, hatte durchaus ihren Reiz. In letzter Zeit hatte sie sich mit dem Gedanken getragen, eine Eigentumswohnung zu kaufen, mochte jedoch nicht so recht den Löwenanteil ihres Eigenkapitals investieren, weil sie das beruhigende Gefühl schätzte, durch genügend Geld auf dem Konto abgesichert zu sein, falls sie eines Tages krank werden sollte oder nicht mehr in der Lage wäre zu arbeiten. Doch jetzt musste sie sich deswegen keine Sorgen mehr machen, denn das Unvorstellbare war geschehen: Durch den frühen Tod der jüngeren Schwester hatte sie praktisch ausgesorgt.
Rowena kehrte zurück in die Schlafzimmersuite, verbrachte geraume Zeit im Ankleidezimmer und bewunderte Claudias Garderobe. Doch sie konnte sich nicht vorstellen, all die schicken und teuren Kleidungsstücke, samt und sonders Designer-Modelle und zumeist noch ungetragen, selbst die Jeans, einfach wegzuwerfen. Von ihrer Mutter hatte Claudia die Begeisterung für schöne Kleidung geerbt, während Rowena bereits als Teenager jegliches Interesse an Mode vergangen war, nachdem Jeanne ihr den vermutlich gut gemeinten Rat gegeben hatte: „Du hast kein Händchen für schicke Kleider, Liebes. Nur gut, dass du den Hang zur Geisteswissenschaft von deinem Vater mitgebekommen hast! So wirst du immer etwas finden, womit du dich beschäftigen kannst.”
Verbittert war Rowena von Stund an ganz bewusst im Öko-Look herumgelaufen, hatte aus Rache absichtlich eine Art von Räuberzivil getragen und Make-up oder Schmuck ignoriert, abgesehen von einer robusten Timex-Männerarmbanduhr, die sie viel lieber trug als die zierliche Golduhr, welche sie von ihrer Mutter zum Abschluss der Highschool geschenkt bekommen hatte. Ihr Mode-Boykott zahlte sich in einem Mehr an Bequemlichkeit aus. Die übergroßen Öko-Textilien waren nie zu eng, wurden nie unmodern und waren so gut wie unverwüstlich; im Allgemeinen wurden sie erst nach hunderten von Waschgängen fadenscheinig, wenn der Baumwoll-, Köper- oder Cordstoff sich allmählich auflöste. Der einzige Luxus, den sie sich leistete, war Parfüm. Von jeder Auslandsreise brachte sie sich aus dem Dutyfreeshop eine neue Duftnote mit, mit der sie die exotischen Bilder und Gerüche des jeweiligen Landes noch eine Weile am Leben erhielt, bis es Zeit wurde, wieder auf Reisen zu gehen.
Sie befühlte gerade ein wunderschönes Seidenhemd, in dessen sinnlichem Stoff man regelrecht schwelgen konnte, als das Telefon läutete. Voller Entsetzen vernahm sie kurz darauf das Klicken des Anrufbeantworters und danach Claudias verführerische Stimme: „Ich würde ja gern mit Ihnen sprechen, bin jedoch momentan verhindert. Wenn Sie mir Ihre Telefonnummer hinterlassen, rufe ich so bald wie möglich zurück.”
Als Rowena endlich den Schreibtisch erreichte, hatte der Anrufer, wer immer es auch gewesen sein mochte, bereits aufgelegt. Zitternd bemerkte sie, dass die kleine Kontrollleuchte für aufgezeichnete Gespräche am Gerät eingeschaltet war, ließ das Band zurückspulen und hörte, wie Ian Hodges sagte: „Vielleicht sollten Sie mal darüber nachdenken, die Ansage zu ändern. Ich habe eben einen Heidenschreck bekommen!” Er räusperte sich und fuhr dann fort: „Könnten Sie uns wohl heute Abend ein wenig behilflich sein? Wir sind komplett ausgebucht und haben niemanden vorn für den Gästeempfang und die Tischzuweisung. Ich hätte vollstes Verständnis, wenn Sie lieber ablehnen würden, aber falls Sie kämen, wäre uns das wirklich eine große Hilfe. Es ist jetzt gerade Mittag. Ich wäre Ihnen dankbar für einen Rückruf im Laufe des Nachmittags, wenn es geht. Vielen Dank.”
Rowena sprach eine neue Ansage auf den Anrufbeantworter und rief Ian an, nachdem sie das Gerät neu eingestellt hatte.
„Nett, dass Sie sich melden”, sagte er.
„Tut mir Leid wegen der Ansage auf dem Anrufbeantworter. Hatte ich völlig vergessen. Inzwischen ist aber alles erledigt.”
„Halb so wild. Wie sieht es aus? Könnten Sie heute Abend
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