Abschied aus deinem Schatten
einen erneuten Leseversuch starten, als sie von der Krankenschwester unterbrochen wurde. „Sie dürfen mal fünf Minuten auf dem Stuhl sitzen”, verkündete sie. „Weil wir Ihr Bett neu beziehen möchten. Toll, was?”
Zu ihrem Entsetzen fühlte Rowena sich derart kraftlos, dass sie es nur mit Lorenes Unterstützung vom Bett zum Stuhl schaffte. Dort angekommen hatte sie das Gefühl, als hätte sie sich noch nie im Leben hingesetzt, so sonderbar und gefährlich kam ihr das Sitzen die ersten zwei Minuten vor. Ihr Körper glich einem Sammelsurium von lose verknüpften, mehr schlecht als recht funktionierenden Teilen; nur mit äußerster Konzentration gelang es ihr, sich an die starre Stuhlform anzupassen und aufrecht sitzen zu bleiben. Ihr war, als bestehe sie nur noch aus Kopf, als sei ihr restlicher Körper verschwunden. Endlich war das Bett frisch bezogen. Rowena war heilfroh und wäre am liebsten erschöpft ins Bett zurückgekrabbelt, um sofort wieder einzuschlafen.
„Ich hab noch ein Bonbon für Sie – falls Sie sich das zutrauen”, bemerkte Lorene. „Ich dachte, Sie würden doch sicher gern mal baden, was?”
„Ach, Lorene, und wie! Ich rieche bestimmt schon!”
„Wusste ich doch, dass Sie da nicht Nein sagen! Bleiben Sie noch ein Momentchen sitzen, ich leite alles in die Wege.”
Sobald sie mithilfe der Schwester ihr Krankenhaushemd abgelegt hatte, entdeckte Rowena erschreckt, dass sie fast am ganzen Körper genau so zerschunden aussah wie im Gesicht. Der Schock saß so tief, dass sie darüber vergaß, so etwas wie Scham angesichts ihrer Nacktheit zu empfinden.
„Ach, mein Mädchen”, bemerkte die Schwester, wobei sie bekümmert mit der Zunge schnalzte, „da haben Sie tatsächlich gewaltig was abbekommen! Aber wenn Sie meinen, das sähe schlimm aus – da hätten Sie sich mal bei Ihrer Einlieferung sehen müssen! Liegen Sie bequem so?”
„Ja, prima. Ach, das tut gut!” Nie hätte sie gedacht, dass es ihr so wenig ausmachen würde, nackt vor einer relativ fremden Person in einem schmucklosen, steril weißen Krankenhausbadezimmer ein heißes Vollbad zu nehmen. Mittlerweile kam ihr allerdings eine ganze Menge von dem, worüber sie sich vor dem Unfall den Kopf zerbrochen hatte, wie belangloser Ballast vor. Dass sie am Leben geblieben war, ganz gleich, in welch kläglichem Zustand, das erschien ihr nun viel wichtiger als irgendeine belanglose Verletzung ihrer Intimsphäre.
„Ich kann Ihnen zwar noch nicht das Haar waschen, aber zumindest die Blutkrusten hier entfernen.” Mit einem eingeseiften Waschlappen und ungewöhnlich sanften Händen säuberte die Schwester, stets leise vor sich hin summend, Rowena Nase und Ohren, befreite auch den Haaransatz von den Blutrückständen und wusch sie dann von Kopf bis Fuß. Es war, als werde ein Kind von der Mutter gebadet – eine Aufgabe, die Jeanne stets an die Haushaltshilfen delegiert hatte.
„Vermutlich haben sich Ihre Kinder furchtbar gern von Ihnen einseifen lassen, nicht wahr?” fragte Rowena, die eine wohlige Mattigkeit verspürte.
„Die waren mit zehn alle schon größer als Sie jetzt. Ungelogen. Essen Sie eigentlich nichts, sagen Sie mal?”
„In letzter Zeit nicht viel”, gab Rowena zu, erheitert über Lorenes unverblümte Art. „Eigentlich komisch, denn ich esse nicht nur gerne, sondern bin zufällig noch Inhaberin eines Restaurants.”
„Wirklich? Von welchem denn?”
„Vom ‚Le Rendezvous‘ in New Canaan.”
„Kenn ich nicht. In die Gegend verschlägt es uns selten, müssen Sie wissen.”
„Dann muss ich Ihnen vor meiner Entlassung unbedingt meine Karte dalassen. Sie und Ihre Familie sind nämlich herzlich zum Dinner eingeladen. Als meine Gäste.”
„Tatsächlich?” Erfreut und skeptisch zugleich zog Lorene die Augenbrauen hoch.
„Jederzeit. Rufen Sie einfach an und teilen Sie mir mit, wann Sie kommen möchten.”
„Wirklich nett von Ihnen.”
Rowena merkte, dass die Krankenschwester nicht recht an die Einladung glaubte und zweifellos vermutete, es handele sich um eine reine Höflichkeitsgeste. „Ich mag Sie gut leiden, Lorene. Wenn ich sage, Sie sind eingeladen, dann meine ich das auch so. Sie haben sich sehr lieb um mich gekümmert.”
Lorene sah ihr lange in die Augen und sagte dann leise: „Das fällt einem bei Ihnen auch nicht schwer.”
Wieder traten Rowena Tränen in die Augen. „Entschuldigung”, sagte sie. „In letzter Zeit muss ich immer gleich weinen.”
„Tja”, lachte Lorene. „Sieht so
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