Abschied aus deinem Schatten
unvermindert fachmännisch.
„Sie haben nicht zufällig vor, uns an den Wochenenden unbefristet auszuhelfen?” fragte Ian sie nach Ablauf der dritten Woche, nachdem der Ansturm auf den sonntäglichen Brunch etwas abgeflaut war.
„Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.” Das war gelogen, denn in Wirklichkeit hatte Rowena sich durchaus häufig mit dem Gedanken beschäftigt.
„Sie machen sich nämlich allmählich richtig beliebt, bei den Gästen und bei den Angestellten.”
„Freut mich zu hören. Ich tue es ja auch gern”, gab sie zu. Beinahe hätte sie sich ob dieses Lobs vor Überraschung verschluckt. „Aber ich bin nicht sicher, ob ich meinen Vollzeitjob und das hier gleichzeitig schaffen würde. Wenn ich nächste Woche in die Bibliothek zurückkehre, werde ich es wohl wissen. Doch ehrlich gesagt kommt es mir vor, als wäre ich schon Jahre hier, und ich arbeite wirklich gern mit Ihnen allen zusammen.”
Offenbar war er erfreut. „Ich hoffe auf Ihr Verständnis, wenn ich sage, dass die Loyalität des Personals dem Geld galt, nicht etwa Claudia. Sicherlich brauche ich Ihnen nicht zu erklären, wie schwierig und anspruchsvoll sie sein konnte, und rücksichtslos obendrein.”
Also gibt er sich über Claudia doch keinen Illusionen hin, dachte Rowena und deutete mit einer Geste an, dass ihr all das sehr wohl bewusst war.
„Die vergangenen Wochen verliefen auf sehr erfreuliche Weise anders”, fuhr er fort. „Und die Umsätze beweisen ja, dass die Gäste ähnlich denken. Wir bekommen mehr Reservierungen für die normalen Wochentagsabende, viele davon durch Mund-zu-Mund-Propaganda. Die Atmosphäre ist ungleich entspannter, jeder merkt das. Claudia hingegen ließ uns nicht zu Atem kommen.” Er presste die Lippen zusammen und schaute ein paar Sekunden zur Seite. „Sie hat immer viel gefordert”, fuhr er schließlich fort. „Aber jemanden öffentlich abzukanzeln wie unseren Julio, der sowieso nur den Mindestlohn verdient, das geht zu weit. Er ist die beste Küchenhilfe, die wir je hatten, und ich wollte ihn eigentlich für eine Lohnerhöhung vorschlagen, wenn Sie einverstanden sind. Er arbeitet jetzt elf Monate bei uns, drei Monate länger, als jeder andere in dem Job vor ihm ausgehalten hat, und er tut mehr als genug für sein Geld.”
„Was für Sozialleistungen bekommt er denn?”
„Keiner von uns bekommt Zusatzleistungen neben dem Lohn, Rowena!”
„Keine Krankenversicherung?”
Er schüttelte den Kopf.
Zornig und beschämt erinnerte Rowena sich an Pennys Bemerkung bezüglich Claudias Knauserigkeit. „Na, dann wollen wir mal unverzüglich einen Versicherungsvertreter herbitten. Und vielleicht sollten wir beide uns bei Gelegenheit zusammensetzen und einmal die Kosten durchrechnen. Ginge das?”
„Sie brauchen mir nur zu sagen, wann!”
„Wie wäre es mit Montag gegen halb vier? Sie können mir die Zahlen vorlegen, und dann überlegen wir uns, was wir anders machen sollten. Fürs Erste komme ich zunächst weiter an den Wochenenden.”
„Ich habe übrigens Beziehungen zur Versicherungsbranche.”
„Gut. Rufen Sie Ihren Kontaktmann an, er soll uns ein Angebot machen. Ein Unding, Mitarbeiter ohne Krankenversicherung! Kriminell ist so etwas! Aber eine Haftpflicht- und Unfallversicherung wird das Restaurant doch vermutlich haben, oder?”
„Das Notwendigste ist da – Feuerversicherung, Haftpflicht und dergleichen.”
„Ian, mir ist klar, das Ganze ist neu für mich, aber mein gesunder Menschenverstand sagt mir, dass das Restaurant nur besser laufen kann, wenn wir die Mitarbeiter ordentlich behandeln.”
„Völlig richtig.” Er bot ihr eine Zigarette an.
Sie nahm sich eine und beugte sich zu der Flamme von Ians Feuerzeug vor. „Gibt es denn irgendetwas, was Sie gern verändern würden?”
Den Blick auf einen imaginären Punkt gerichtet, ließ er sich die Frage durch den Kopf gehen, wobei er auf kaum merkliche Weise enttäuscht wirkte. Dann wandte er sich wieder zu Rowena um, sah sie an, lächelte plötzlich und schüttelte den Kopf. „Nein. Aber wenn mir was einfällt, werde ich es Ihnen bestimmt sagen.”
„Ich bitte darum. Und Sie müssen mir versprechen, dass Sie mir Bescheid sagen, wenn ich meine Kompetenzen überschreite oder Unsinn mache. Ich würde nur ungern jemandem unwissentlich auf die Zehen treten.”
„Natürlich”, sagte er. „Wer will das schon!”
Während der Heimfahrt stellte sie sich die Frage, ob Ian wohl auch so etwas wie ein Privatleben führte.
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