Abschied aus deinem Schatten
Meist arbeitete er ziemlich lange im Restaurant, kannte keine geregelte Arbeitszeit und hatte offenbar keinen weiteren Bekanntenkreis außer den Mitarbeitern im Lokal. Nach Feierabend fuhr er hin und wieder mit dem Personal auf einen Drink oder einen Imbiss in eins der zahlreichen Schnellrestaurants, die sich auf dem Streckenabschnitt der Route 1 zwischen Darien und Westport befanden. Es hatte den Anschein, als führe er ein ziemlich einseitiges Leben. Doch möglicherweise wollte er es nicht anders. Dennoch, er musste ein Mann mit Vergangenheit sein, das bewiesen seine gewählte Ausdrucksweise, der gebildete britische Akzent, die erlesene Kleidung, jene so typisch britische Reserviertheit und die Tendenz zur Untertreibung. Es war durchaus reizvoll, darüber zu spekulieren, wie es möglich war, dass jemand mit seiner Herkunft und Bildung als Geschäftsführer eines Restaurants in einer Kleinstadt in den Neuenglandstaaten landen konnte. Vielleicht erzählt er es mir mal, dachte sie. Eines Tages, wer weiß?
5. KAPITEL
A m Montagmorgen rief Rowena ihre Friseurin an.
„Im Augenblick ist nicht viel Betrieb”, sagte Kate. „Falls du willst, kannst du gleich kommen.”
„Wunderbar! Bin in zehn Minuten da!”
Nach Rowenas Einschätzung sah Kate, obwohl einige Jahre älter, wie die Jüngere von ihnen beiden aus. Sie war gertenschlank, etwa einsachtundsechzig groß, trug ausnahmslos eng sitzende Jeans und grellfarbene Tops und vermittelte den Eindruck, als sei sie ständig in Bewegung, selbst wenn sie still stand.
„Was soll ich bloß mit dir anfangen?” Kate betrachtete Rowena im Spiegel und hob einige Strähnen des frisch gewaschenen Haares hoch. „Bist du denn deine langweilige Allerweltsfrisur noch immer nicht leid? Dein ganzes Leben hast du nicht anders ausgesehen!”
„Ein bisschen lang sind sie ja tatsächlich”, räumte Rowena verlegen ein.
„Na, das ist wohl leicht untertrieben!” Kate grinste. „Du siehst kein bisschen vorteilhaft damit aus, mein Schatz! Dabei hast du so hübsche große Augen in deinem süßen Gesichtchen. Und was machst du daraus? Nichts! Weißt du, was ich glaube?”
„Was denn?”
„Ich glaube, du solltest mal etwas Gewagteres probieren!”
„Was denn?”
„Wovor hast du eigentlich solche Angst?” Kate kam um den Frisiersessel herum und lehnte sich, die Arme über der Brust verschränkt, mit dem Rücken gegen den Tresen. „Du traust mir nicht? Nach all den Jahren?”
„Ich vertraue dir schon, nur weiß ich einfach nicht, ob ich mir was Riskantes zumuten soll. An was hattest du denn gedacht?”
„Wir schneiden es ganz kurz und stufig.”
„Wie kurz? Und wie stufig?”
Kate lachte auf, griff nach einer Plastiktasse und nahm einen Schluck Kaffee. „Richtig kurz und richtig stufig!” Sie begutachtete Rowenas Gesicht im Spiegel. „Es steht dir bestimmt gut und unterstreicht die Linienführung deines Gesichts! Es ist allerhöchste Zeit, dass du etwas an deinem Aussehen änderst. Warum du das nie gemacht hast, war mir schon immer ein Rätsel.”
Rowena schaute in den Spiegel und verzog das Gesicht.
„Na, das ist ja wirklich konstruktiv. Wie sieht’s aus? Wollen wir es riskieren?”
Rowena lachte nervös, willigte dann aber ein. „Ach, was soll’s! Versuchen wir es mal!”
„Ich möchte schon wissen, ob du ganz sicher bist. Ist das Haar erst abgeschnitten, gibt es kein Zurück mehr.”
„Ich bin mir sicher. Mach nur, runter damit!”
„Du wirst es nicht bereuen, Schätzchen!” Kate leerte den Kaffeebecher, warf ihn in den Mülleimer und griff nach ihrer Schere.
Nachdem sie ihre Arbeit beendet hatte, begutachteten beide eine ganze Zeit lang schweigend Rowenas Spiegelbild. Dann sagte Kate schließlich: „Du siehst umwerfend aus, noch besser, als ich es mir vorgestellt hatte. Die Frisur lässt dich um Jahre jünger wirken. Was meinst du?”
„Es ist … doch sehr kurz, oder nicht?” Rowena erkannte sich kaum wieder. „Aber es gefällt mir, glaube ich.”
„Verlass dich drauf, es sieht toll aus. Jetzt kann man auch endlich dein Gesicht erkennen. Du bist eine sehr hübsche Frau, weißt du das?”
Unweigerlich schüttelte Rowena den Kopf.
„Hör mit deinen Selbstzweifeln auf!” sagte Kate lächelnd. „Du siehst großartig aus, ehrlich! In sechs Wochen kommst du wieder, zum Nachschneiden.”
Ihr Kopf fühlte sich ungewohnt leicht an, und der scharfe Februarwind strich ihr über den freien Nacken, als Rowena am Delikatessenimbiss aus dem Wagen
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