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Abschied aus deinem Schatten

Abschied aus deinem Schatten

Titel: Abschied aus deinem Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Vale Allen
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sich und beendete dann ein wenig irritiert das Gespräch.
    Diese kurze Unterhaltung kam ihr mehr als sonderbar vor, angefangen damit, dass er sich mit dem vollen Namen Anthony vorgestellt hatte, nicht mit der von Claudia stets benutzten Kurzform Tony, bis hin zu seiner Bemerkung, Claudias Tod sei „höchst bedauerlich”. Wie ein Liebhaber, ob aktuell oder verflossen, hatte er sich wahrlich nicht ausgedrückt – eher nüchtern und professionell, wie jemand, der mit höflicher Anteilnahme sein Beileid bekundet. Rowena hatte alle Mühe, seine tiefe, sanfte Stimme, aus der sich wenig Überraschung oder Schock über Claudias Tod hatte heraushören lassen, mit deren überschwänglichen Kommentaren über ihn in Einklang zu bringen. Allerdings machte es wohl wenig Sinn, aus einem kurzen Gespräch Schlüsse ziehen zu wollen. Rowena neigte dazu, der Stimmlage von Gesprächspartnern am Telefon übergroße Bedeutung zuzumessen, und gewann durch Fehlinterpretationen eines vermeintlichen Untertons häufig einen völlig falschen Eindruck von der Stimmung des jeweiligen Anrufers.
    Bevor sie zum Restaurant aufbrach, warf sie noch einen raschen Blick in den Spiegel, und sie merkte, dass es allmählich an der Zeit war, etwas an ihrer Frisur zu ändern. Ihr Haar war viel zu lang, und sie war inzwischen dazu übergegangen, es im Nacken mit einer Spange zu raffen, was ganz und gar nicht mit der Garderobe harmonierte, die sie mittlerweile trug. Das galt auch für ihr ungeschminktes Gesicht, und deshalb griff sie nach einem der unbenutzten Lippenstifte in der Kosmetikschachtel auf der Spiegelablage. Doch die Farbe gefiel ihr ganz und gar nicht, sodass sie sie sofort wieder fortwischte. Sie probierte eine andere aus, wischte sie jedoch ebenfalls ab. In Bezug auf Kosmetik konnte sie nicht mitreden – im Gegensatz zu Claudia hatte sie nicht ihre frühen Teenagerjahre damit zugebracht, mit unterschiedlichen Tönen von Lidschatten, Wimperntusche oder Rouge zu experimentieren. Resigniert strich sie sich das Haar glatt und verließ das Badezimmer.
    Kaum hatte sie das „Le Rendezvous” betreten, besserte sich ihre Laune, und auf dem Weg zum Büro bedachte sie jedermann mit einem fröhlichen Gruß. Mittlerweile kam es ihr so vor, als blühe sie jedes Mal, wenn sie den Fuß ins Restaurant setzte, regelrecht auf. Zum einen lag es daran, dass das Zusammensein mit dem Personal ihr auf außergewöhnliche Weise das Gefühl vermittelte, als seien sie eine Familie; die Nähe zu diesen relativ jungen Leuten, ihr vom Kellnerjargon durchsetzter Humor, all das genoss sie geradezu, und durch den Umgang, so schien es ihr, fühlte sie sich jung und lebensfroh. Zum anderen wusste sie, dass sie zwar Claudias Rolle spielte, jedoch auf ihre ganz eigene Weise, und gut dazu.
    Als jemand, der von der Mutter entweder ignoriert oder kritisiert und von der Schwester schikaniert oder gequält worden war, betrachtete sie die Tatsache, dass sie in Claudias Metier Erfolge erzielte, als eine außergewöhnliche Leistung. Aufgrund ihrer Erfahrungen in der Bibliothek wusste sie seit langem, dass sie gut mit Menschen umgehen konnte. Die Öffentlichkeit stellte sich Bibliotheken gemeinhin als esoterische Unterabteilungen des öffentlichen Dienstes vor, und Besucher reagierten meist verblüfft, wenn sie von freundlichem Personal bedient wurden. Rowena konnte das nur recht sein. Ein Restaurant der oberen Klasse war zwar etwas ganz anderes, doch sie stellte fest, dass hier, mehr noch als in einer Bibliothek, die Gäste eine freundliche Bedienung dankbar zur Kenntnis nahmen.
    Zudem stellte sie mit einigem Vergnügen fest, dass Gäste mit dem notwendigen Kleingeld offenbar durchaus damit rechneten, für das Privileg eines teuren Menüs schlecht behandelt zu werden. Nahm man sich ihrer jedoch mit Herzlichkeit an, reagierten sie zunächst mit ungläubiger Skepsis und sodann mit Dankbarkeit. Während Claudia ihren Besuchern noch das Gefühl vermittelt hatte, sie gehörten einer verwöhnten Elite an, war Rowena auf sehr persönliche Weise darum bemüht, dass die Gäste willkommen waren und sich wohl fühlten. Stammgäste wurden mit Namen begrüßt; sie freute sich, sie wiederzusehen und sagte es ihnen auch, und die veränderte Atmosphäre im Lokal war nicht zu übersehen. Im Verlaufe eines Abends wurde jetzt mehr gelacht, die Unterhaltungen verliefen aufgeräumter, die Gäste amüsierten sich augenscheinlich, und das Personal verhielt sich weniger förmlich als zuvor, wenn auch

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