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Abschied aus deinem Schatten

Abschied aus deinem Schatten

Titel: Abschied aus deinem Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Vale Allen
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mit einem Stechen in der Magengegend verließ sie die Praxis und überquerte, belebt von der kalten Luft, den Parkplatz. Als sie in ihren Honda stieg, war sie sich nicht ganz sicher, was sie gerade gehört hatte: den größten Unsinn aller Zeiten oder aber die Wahrheit.

6. KAPITEL
    „D as Bemerkenswerte an der Situation liegt darin, dass die Fantasien nicht von einem intakten Ego auf die Gedankenwelt begrenzt, sondern auf die Wirklichkeit übertragen werden. Dort spielt dann ein nichts ahnender Mann in prominenter Stellung die Rolle des Liebhabers …
    Das Hauptaugenmerk gilt nicht den Gefühlen, welche die Frau für ihren vermeintlichen Liebhaber empfindet, sondern liegt vielmehr auf den Empfindungen, die sie ihm zuschreibt. Sie konzentriert sich nicht auf ihre Liebe zu ihm, sondern umgekehrt darauf, wie sie von ihm geliebt wird …
    Wahnvorstellungen mit möglicherweise nachfolgenden Verhaltensstörungen liegen in einer Veränderung oder einem Defekt des Ego begründet. Die Wahnvorstellungen an sich beruhen jedoch im Großen und Ganzen auf im Laufe des Lebens gemachten Erfahrungen und dem daraus resultierenden Gefühl, man werde nicht geliebt oder, was vielleicht noch schlimmer ist, man sei es nicht wert, geliebt zu werden …”
    Während sie am Küchentisch saß, umgeben von dem halben Dutzend Papiere, die sie von Anthony Reid erhalten hatte, erinnerte Rowena sich plötzlich in aller Klarheit an einen Vorfall, bei dem Claudia wild kreischend auf ihre Mutter losgegangen war. Die Hände zu Fäusten geballt, das Gesicht krebsrot und vor Wut und Verzweiflung verzerrt, hatte Claudia geschrien: „
Wenn du mich lieben würdest, dann würdest du mich nicht dazu zwingen!”
Jeanne war zwar betroffen gewesen, hatte den Ansturm jedoch ungerührt wie ein Steinpfeiler über sich ergehen und sich nicht erweichen lassen.
    Mit Macht konzentrierte Rowena sich auf ihre Erinnerungen, und allmählich fiel ihr alles wieder ein. Damals war Claudia von ihrer Mutter mitten im Schuljahr von der öffentlichen Junior Highschool abgemeldet und auf einer Privatschule in Stamford angemeldet worden. Claudia hatte gebettelt und gefleht, nicht wechseln zu müssen. Diesmal jedoch hatte Jeanne sich ausnahmsweise durchgesetzt, weil sie glaubte, ihre Tochter würde sich in der Umgebung einer reinen Mädchenschule nicht mehr so von Jungen ablenken lassen und sich unter der Obhut der allerbesten Lehrer besser entwickeln.
    Claudia war tief deprimiert. Sie hasste Schuluniformen, hasste die rigorosen Unterrichtsmethoden, hasste ihre Mitschülerinnen. Die Hausaufgaben überforderten sie, und während des ersten Monats in der neuen Umgebung weinte sie beinahe ständig. Nacht für Nacht hörte Rowena, wie ihre Schwester im Zimmer nebenan schluchzte, und Claudia tat ihr zunehmend Leid. Versuchte sie, ihr Trost zuzusprechen, wurde Claudia nur noch verzagter.
    „Warum tut sie mir das an?” Jammernd war sie Rowena in die Arme gesunken.
    „Aber so schlimm kann es doch nicht sein, oder?” hatte Rowena gefragt. Es war ihr seltsam vorgekommen, ihre jüngere Schwester zum ersten Mal wieder so in den Armen zu halten, wie sie es gemacht hatte, als diese noch ein Kleinkind gewesen war.
    „Ich
hasse
diese Schule! Und
sie
hasse ich, weil sie mich dorthin schickt! Ich wünschte, ich wäre tot! Oder dass sie tot wäre!”
    „Es wird schon alles gut werden!” In der Rolle der Trösterin fühlte Rowena sich unbehaglich. Doch die Tatsache an sich, dass ihre Schwester sich zu dieser bislang nicht gekannten körperlichen Nähe hinreißen ließ, war Beweis genug für Claudias echte Verzweiflung.
    „Nein, wird es eben nicht! Nie! Ich will lieber sterben!”
    Erschrocken hatte Rowena gesagt: „Vielleicht sollte ich mal mit ihr reden.”
    „O ja, bitte, Ro! Auf dich hört sie bestimmt! Sag ihr, ich halte es da nicht aus. Ich sterbe, wenn ich dort bleiben muss!”
    „Ich kann es ja mal versuchen”, hatte Rowena versprochen und war nach unten gegangen, um mit Jeanne zu sprechen.
    Von ihrer Mutter, die gerade ein Telefongespräch führte, war sie mit einer unwirschen Bewegung abgewehrt worden, als wäre sie eine lästige Stubenfliege. Rowena zog sich daraufhin in den hinteren Bereich des Wohnzimmers zurück, um dort zu warten. Als Jeanne nach ein, zwei Minuten merkte, dass ihre Tochter immer noch da war, sagte sie in den Hörer: „Bleib mal einen Augenblick dran, Darling, ja?” und deckte die Sprechmuschel mit der Hand ab. „Was suchst du hier?” fragte sie

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