Abschied aus deinem Schatten
jeder in ihren Augen ein Dummkopf, und um das zu beweisen, war ihr nahezu jedes Mittel recht. Schauen Sie, Dr. Reid, über Claudia lässt sich vieles sagen, doch was sie mit Sicherheit nicht hatte, waren Wahnvorstellungen oder Selbstmordabsichten. Was Sie mir da erzählen, nehme ich Ihnen einfach nicht ab.”
„Ich weiß, es ist kompliziert. Allerdings geben Sie sicherlich zu, dass Sie und Ihre Schwester sich nicht sonderlich nahe standen. Und Menschen tatsächlich zu durchschauen, auch wenn sie einem noch so vertraut erscheinen, ist häufig nicht einfach.”
„Da stimme ich Ihnen zu. Dennoch fällt es mir schwer, mir Claudia als einen Menschen vorzustellen, der in dem Wahn lebte, dass jemand sich in sie verliebt habe. Normalerweise musste sie sich die Männer mit Gewalt vom Leibe halten.”
„Es ist lediglich die Diagnose eines einzelnen Arztes. Aufgrund ihres Verhaltens und in Abstimmung mit Kollegen zog ich den einzigen Schluss, den ihre Symptome zuließen. Ich will gern eingestehen, dass die Psychiatrie als Wissenschaft alles andere als vollkommen ist, doch bislang haben wir noch keinen brauchbaren Ersatz für sie gefunden. Ich gebe Ihnen mal die entsprechenden Zahlen.” Er entnahm der Schreibtischschublade einen großen Umschlag und reichte ihn ihr über den Tisch. „Hoffentlich bringt es Sie weiter. Bedaure, dass ich Ihnen keine klareren Auskünfte geben kann.”
„Wie äußerte sich ihr ‚Verhalten‘ – von den Telefonanrufen einmal abgesehen?”
„In erster Linie dadurch, dass sie dutzende Male anrief. Einige Male tauchte sie sogar bei mir zu Hause auf. Sie
glaubte
, ich sei in sie verliebt, und benahm sich dementsprechend. Unsere therapeutischen Sitzungen brachten mich, um es ganz offen zu sagen, aus dem Konzept. Trug ich zufällig eine bestimmte Krawatte oder lag eine Akte auf eine bestimmte Weise auf dem Schreibtisch, legte sie das auf ihre Weise aus. Alles und jedes interpretierte sie als kodierte Botschaft. Ging ich hier im Büro nicht auf ihre Anspielungen ein, dann, so Claudias Vorstellung, nur deshalb, weil meine Sekretärin sonst eifersüchtig gewesen wäre, hätte sie entdeckt, dass zwischen mir und meiner Patientin ein Techtelmechtel im Gange war. Meine Sekretärin ist, wie Sie möglicherweise bemerkt haben, eine glücklich verheiratete Großmutter, die dazu neigt, mich wie einen spät entwickelten Zwölfjährigen zu behandeln.” Er lächelte, und Rowena erwiderte es amüsiert. „Falls ich nicht reagierte, wenn Claudia ohne Ankündigung an meiner Haustür erschien, dann ihrer Ansicht nach nur deswegen, weil die Nachbarn vielleicht etwas merken und es meiner Exfrau melden könnten, was dummes Zeug war. Menschen mit seelischen Störungen legen sich im Allgemeinen ihre eigene Version von dem zurecht, was wirklich oder durchführbar ist, und daran halten sie sich auch. Jedenfalls ging es immer weiter.”
„Woher kannte sie denn Ihre Privatadresse und Ihre Telefonnummer?”
„Aber ich bitte Sie!” schalt er sie milde und lächelte dabei wieder. Der kleine Disput mit ihr machte ihm offenbar Spaß. „Sie sind doch Bibliothekarin, nicht wahr? Dann wissen Sie doch zweifellos, wie viele unterschiedliche Telefonbücher einem zur Verfügung stehen! Herauszufinden, wo jemand wohnt, ist nicht besonders schwer, wenn man entschlossen genug zu Werke geht.”
„Das stimmt.”
„Ich musste ihr rechtliche Schritte androhen, damit sie endlich aufhörte.”
„Und sie gab tatsächlich auf?”
„Nachdem wir uns hier zusammengesetzt hatten und ich ihr meine Gründe für den Abbruch der Therapie erklärte, begriff sie offenbar, dass sie mit einer einstweiligen Verfügung rechnen musste, falls sie sich nicht freiwillig zurückhielt. Ich legte großen Wert darauf, ihr nicht zu sehr zu drohen, und machte ihr klar, dass ein möglicher Rechtsstreit sich negativ auf ihr Geschäft auswirken könne. Ich bemühte mich, sie so rücksichtsvoll, wie es nur eben ging, zur Aufgabe zu bewegen. Leicht war es nicht, doch letzten Endes gelang es mir. Es war keine sehr angenehme Erfahrung, Miss Graham. Im Gegenteil!”
„Das kann ich mir gut vorstellen.”
„Bitte, lesen Sie die Artikel. Danach rufen Sie mich an, und wir können unser Gespräch fortsetzen.” Er stand auf und kam um seinen Schreibtisch herum. „Mein aufrichtiges Beileid zum Tod Ihrer Schwester!”
„Danke.”
Sie schüttelten einander die Hand und lächelten sich an, und zum zweiten Mal war Rowena, als treffe sie ein Schlag. Langsam und
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