Abschied aus deinem Schatten
je gesehen hatte. Im Vergleich zu ihm kam sie sich noch kleiner und unscheinbarer vor als sonst. Einige weitere Sekunden verstrichen, bis sie sich erholt hatte, doch dann stellte sie sich vor und reichte ihm über den Schreibtisch hinweg die Hand. Nach ihrem zweiten Eindruck hätte sie ihn, wäre er ein Land gewesen, als Finnland eingestuft: groß, dunkel, makellos und eintönig. Auf düstere, freudlose Weise wirkte er beängstigend solide gebaut, ähnlich der berühmten Kirche in Helsinki, die Rowena früher einmal besichtigt hatte – aus einem mächtigen Felsen gehauen und um diesen herum errichtet.
„Vielen Dank, dass Sie sich Zeit nehmen für mich”, sagte sie, nachdem beide Platz genommen hatten und sich am Schreibtisch gegenübersaßen.
Er nickte, ohne zu lächeln. Rowena hatte das Gefühl, als beobachte er sie mit einiger Reserviertheit, ja sogar Furcht vor etwas Unangenehmem.
„Claudia hat so herzlich von Ihnen gesprochen”, begann sie. „Wir hielten zwar keinen besonders engen Kontakt, aber dennoch erwähnte sie, dass sie mit Ihnen …”
„Ich muss hier wohl unterbrechen”, sagte er mit seiner sanften, tiefen Stimme, wobei er seine linke Hand hob. „Ich möchte sowohl mir als auch Ihnen eine unangenehme Situation ersparen. Die Richtung, die dieses Gespräch offenbar nimmt, lässt vermuten, dass Ihre Schwester Ihnen etwas erzählt hat, was schlicht nicht der Wahrheit entspricht.”
„Sie behauptete, sie habe ein Verhältnis mit Ihnen. Sie sprach monatelang davon.”
Zum ersten Mal lächelte er, was ihn gleich zugänglicher und sympathischer erscheinen ließ. Und einsam? Konnte das sein? Rowena hätte es gern gewusst.
„Als ich Ihre Nachricht hörte, ging ich gleich davon aus, dass es zu genau dieser Unterhaltung zwischen uns kommen würde. Ich habe deshalb einige Artikel kopiert, die, so hoffe ich, Ihnen das Verständnis erleichtern werden.”
„Es gab also keine Liaison zwischen Ihnen und meiner Schwester”, sagte sie leise. Bereits beim ersten Anblick dieses Mannes waren ihr Claudias Behauptungen zweifelhaft vorgekommen.
„Nein, auf gar keinen Fall. Vor drei oder vier Monaten brach ich sogar die Behandlung ab. Ich empfahl Ihrer Schwester einige Kolleginnen und Kollegen, doch ob sie dieser Empfehlung folgte und sich anderweitig behandeln ließ, entzieht sich meiner Kenntnis.” Er fixierte seine über der Schreibtischkladde verschränkten Hände, schaute Rowena dann wieder an und fuhr fort: „Ich habe einige Zeit über die Sache nachgedacht und mich dann dazu durchgerungen, meine Schweigepflicht in diesem Fall ausnahmsweise zu vergessen. Claudia ist tot, und Sie sind gekommen, weil Sie nach Antworten suchen. Mir scheint, es schadet niemandem, wenn ich Ihnen diese Antworten zu geben versuche.”
„Das weiß ich zu würdigen.”
„Nach meinem Eindruck als Psychiater litt Ihre Schwester am so genannten de-Clérambault-Syndrom, gemeinhin auch als Erotomanie oder Paranoia erotica bekannt. Da ich dieses ziemlich selten auftretende Krankheitsbild gern bestätigt haben wollte, besprach ich den Fall mit zwei Kollegen, die beide meine Diagnose bekräftigten. Kurz gesagt befindet die Patientin sich in dem krankhaften Wahn, ein bestimmter Mann, der häufig, doch durchaus nicht immer älter als sie ist, habe sich heftig in sie verliebt. Bei diesem Mann handelt es sich gewöhnlich um einen Prominenten, eine Persönlichkeit von hohem sozialen Rang oder eine Person der Zeitgeschichte. Die Patientin – im vorliegenden Fall Ihre Schwester – versteift sich darauf, dass dieser Mann ohne sie nicht glücklich sein und kein ausgefülltes Leben führen könne.”
„Nennt man das nicht Übertragung?”
„Haben Sie einmal eine Therapie mitgemacht?”
„Nein”, erwiderte sie. „Doch einige Fachbegriffe sind mir durchaus geläufig.”
„Natürlich. Nun, es ist erheblich komplizierter als nur eine Art übersteigerter Abhängigkeit von seinem Psychoanalytiker. In der Mehrzahl der Fallstudien, von denen es leider nur wenige gibt, konzentriert sich die Patientin normalerweise auf ihren Arzt oder ihren Anwalt oder Lehrer, auf jemanden, dessen Verhalten sie als Liebesbeweis interpretiert. Nach Claudias fester Überzeugung war ich rettungslos in sie verliebt. Sie ging dazu über, mehrmals am Tag in der Praxis anzurufen. Als sie nicht zu mir durchgestellt wurde, versuchte sie es mit Anrufen in meiner Privatwohnung. Letzten Endes blieb mir keine andere Wahl, als zu handeln. Bei ihrem nächsten
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