Abschied aus deinem Schatten
nochmals durchgelesen hatte, war sie zumindest teilweise davon überzeugt, dass Reid mit seiner Diagnose durchaus richtig gelegen haben konnte.
Möglicherweise wurzelten Claudias Störungen in bestimmten Verwicklungen aus der Kindheit, die, um es milde auszudrücken, ziemlich ungewöhnlich verlaufen war. Kein Mensch wäre je auf den Gedanken gekommen, Jeanne als fürsorgliche Mutter zu bezeichnen. Ihr Hauptaugenmerk hatte immer schon ihrem Bekanntenkreis und ihrem gesellschaftlichen Leben gegolten. Hausarbeit und Kinderbetreuung überließ sie einer ganzen Reihe wechselnder Hausangestellten, in der Mehrzahl komische Schrullen, von denen es keine lange im Haus der Grahams aushielt.
Zwei waren Rowena besonders nachhaltig im Gedächtnis haften geblieben. Die Erste, eine sehr junge Frau von neunzehn oder zwanzig Jahren, blass und lethargisch, mit langem, strähnigem Haar und einer Aura gereizter Hilflosigkeit, hatte wegen mangelnder Kochkünste die drei Kinder gut ein Vierteljahr lang mit Erdnussbutterbroten und Tütensuppen ernährt. Cary, der es schließlich satt hatte, nicht genug zum Essen zu bekommen, hatte sich beim Vater beschwert, und der warf die Hausgehilfin kurzerhand hinaus. Die zweite war Mitte bis Ende fünfzig, rundlich, rotgesichtig und grimmig. Religiös bis zum Fanatismus, nötigte sie die drei zu Tode verängstigten Kinder tagein, tagaus und zu jeder beliebigen Stunde zum Gebet. Als Jeannes Tennismatch eines Nachmittags wegen eines Regenschauers ausgefallen und sie verfrüht heimgekommen war, hatte sie die Haushälterin mit den drei Kindern auf Knien betend in der Küche angetroffen.
„Was zum Kuckuck ist denn hier los?” hatte sie wütend gefragt – zur Erleichterung ihrer dankbaren Sprösslinge, die wie der Blitz aufgesprungen waren.
„Wir flehen zum Allmächtigen, auf dass er Ihre sündige Seele retten möge”, erklärte die aufrechte Haushaltshilfe, noch immer auf Knien, geradeheraus.
„In einer Stunde sind Sie hier raus!”
brüllte Jeanne los und scheuchte die Kinder nach oben auf ihre Zimmer. „Hirnverbrannte Spinatwachtel!” brummte sie noch, schenkte sich im Wohnzimmer einen Drink ein und schaute dabei aus dem Fenster, bis das angeforderte Taxi eintraf und die fromme Fanatikerin abholte. „Meine sündige Seele retten! Starkes Stück!” Mit einem Glas in der einen und einer Zigarette in der anderen Hand lief sie vor dem Fenster auf und ab und fluchte verhalten vor sich hin, bis die Frau fort war.
Und somit hatte es sich wieder einmal mit einer Kinderfrau. Doch mindestens ein halbes Dutzend weitere waren noch gekommen, zum größten Teil höchst merkwürdige Charaktere.
Die Graham-Kinder waren eher lieblos großgezogen worden, mit nicht sehr viel Nestwärme, dafür mit umso mehr materiellen Dingen. Der Vater, das musste man ihm lassen, hatte mit gelegentlichen Ausflügen versucht, seine Zuneigung unter Beweis zu stellen. Er war jedoch durch seine Anwaltskanzlei zu sehr in Anspruch genommen worden, um sich noch mehr um den Nachwuchs kümmern zu können. Im Bestreben, der Familie einen Lebensstil zu ermöglichen, den seine Frau als angemessen empfand, hatte er möglichst viel Zeit in Fälle investieren müssen, die sich über die Gebührenordnung abrechnen ließen.
Rowena hatte ihren Vater als attraktiven, sanftmütigen und müde wirkenden Mann in Erinnerung, in dessen graublauen Augen stets ein verlorener Blick lag. Sie wusste auch noch, dass er sich, wenn er an Werktagen aus der Kanzlei nach Hause kam, immer einen Drink genehmigte und sich dann, nachdem er die Krawatte gelockert hatte, seufzend in einen Wohnzimmersessel sinken ließ. An die Ausflüge erinnerte sie sich nur vage, doch die Sanftmut und Geduld, mit der George die drei Geschwister behandelt hatte, hatten Rowena nachhaltig beeindruckt.
Jeanne hingegen war immerfort zu beschäftigt gewesen, um Interesse oder Geduld für ihre Kinder aufzubringen, und hatte noch weniger Zeit daheim verbracht als ihr Mann. Allerdings war sie großzügig und stets bereit, Claudias Leidenschaft für Mode sowie Carys Passion für Sport und Segeln zu unterstützen. Was ihre ältere Tochter anging, so rümpfte Jeanne zwar über Rowenas introvertierte Art empört die Nase, schlug ihr jedoch die Bitte nach Büchern nie ab, da ihr die gefühlsmäßigen Bedürfnisse ihrer Familie ohnehin ein Rätsel waren und sie sich lieber in konkrete materielle Zuwendungen flüchtete. Rowena allerdings hatte als Kind stets geglaubt, ihre Mutter kaufe ihr die
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