Abschied aus deinem Schatten
offiziellen Termin eröffnete ich ihr, dass ich die Behandlung nicht fortsetzen könne. Wie bereits erwähnt, empfahl ich verschiedene Kollegen. Seitdem habe ich Ihre Schwester nicht mehr gesehen.”
„Gehen wir noch einmal ein Stück zurück.” Rowena konnte sich nicht vorstellen, dass Claudia eine Person oder Sache einfach kampflos aufgegeben hätte. „Wieso und wann hat sie sich überhaupt bei Ihnen in Behandlung begeben?”
„Sie suchte mich etwa vor einem Jahr wegen Depressionen auf.”
Das klang nachvollziehbar. Claudia hatte seit ihrer Pubertät unter depressiven Schüben gelitten und im Laufe der Jahre zahlreiche Psychiater konsultiert. „Und zu welcher Diagnose gelangten Sie, wenn ich fragen darf?”
„Falls Sie Einzelheiten erfahren möchten, müsste ich meine Notizen heranziehen. Grundsätzlich litt sie nach meinem Dafürhalten an leicht ausgeprägten Angstzuständen und einer Depression. Außerdem vermutete ich eine Essstörung, doch über dieses Thema ließ sie nicht mit sich reden. Zudem wurde eine Blutuntersuchung durchgeführt, um mögliche chemische Unausgeglichenheiten auszuschließen. Es wurden jedoch keine festgestellt. Ich verschrieb ihr Antidepressiva, und eine Zeit lang besserte sich ihr Zustand offenbar. Doch dann entwickelte sie ihre Liebeswahnvorstellungen, und zwar derart schnell und ausgeprägt, dass es für mich ausgeschlossen war, sie weiter zu behandeln.”
„Wie lange war sie denn bei Ihnen in Behandlung, bevor dieses Syndrom auftrat?”
„Fünf, möglicherweise sechs Monate.”
„Und wie oft hat Claudia Sie noch aufgesucht, bevor Sie ihr einen anderen Psychiater empfahlen?”
„Ich glaube, wir hatten etwa ein Dutzend Sitzungen”, erklärte er. „Anfangs kam sie zweimal die Woche, dann einmal. Ich müsste in meinen Akten nachsehen, doch ich meine, die Erotomanie dauerte bereits zwei Monate an, als ich die Behandlung auslaufen ließ.”
Auslaufen! Rowena war der Ausdruck nicht geheuer. Einerseits klang das, was Reid erzählte, nach völligem Unfug. Andererseits konnte sich jeder, der Claudia kannte, durchaus vorstellen, dass sie es auf ihren Therapeuten abgesehen hatte. Er war ein Bild von einem Mann, und nichts reizte Claudia mehr, als jemandem nachzustellen, der eigentlich tabu war. Natürlich bedeutete das nicht automatisch, dass sie an diesem seltsamen Syndrom gelitten hatte.
„Mir ist durchaus bewusst, dass sich das alles abstrus anhören muss.” Reid lächelte schuldbewusst. „Ich persönlich hatte ebenfalls noch nie vorher mit Erotomanie zu tun gehabt, sondern nur mal eine Abhandlung darüber in einer Fachzeitschrift gelesen. Außerdem stand etwas in einem Buch über seltene Syndrome, das ein britisches Forscherteam damals in den Sechzigern mal verfasste. Doch bis ich Ihrer Schwester begegnete, hatte ich, wie überhaupt die meisten von uns Psychiatern, keinerlei direkte Erfahrung damit gesammelt. Letztlich wandte ich mich an einen meiner ehemaligen Professoren, der mir einige Notizen zu bestimmten Fällen zukommen ließ sowie Kopien jener Artikel, die ich auch für Sie vervielfältigt habe. Claudias Tod habe ich mit großem Bedauern zur Kenntnis genommen. Dass sie suizidale Absichten hegte, hätte ich nicht gedacht.”
Rowena zuckte zusammen. Von Selbstmord war bislang nicht die Rede gewesen! Am Telefon hatte sie Reid mitgeteilt, Claudia sei an einer versehentlichen Überdosis verstorben. „Ich glaube nicht, dass sie sich mit Selbstmordgedanken trug”, sagte sie, wobei sie ihre Worte sorgsam wählte.
„Zuweilen ist die ‚zufällige‘ Einnahme von Medikamenten und Alkohol eine verdeckte Form des Suizids.”
„Tatsächlich? Das klingt aber eher aufgesetzt, fast wie eine rückwirkende Diagnose.”
Aus kristallklaren Augen musterte er sie unverwandt, als revidiere er gerade das Urteil, das er sich anfänglich über sie gebildet hatte. „Claudia schilderte Sie mir in der Tat als hochintelligent.”
„Ich bezweifle stark, dass sie das als Kompliment meinte. Sie legte viel größeren Wert auf andere Eigenschaften.”
„Als da wären?” Mit verschränkten Armen lehnte er sich, offenbar interessiert, über den Schreibtisch.
„Äußere Schönheit, Eroberungen, sogar Aggressivität. Intelligenz schätzte sie nur in dem Maße, wie sie ihr half, das zu bekommen, was sie wollte. Sie betrachtete alles als Spiel, und sie wollte gewinnen. Sie war klug, gerissen und rücksichtslos. Menschen mit Skrupeln tat sie als Idioten ab. Überhaupt war so gut wie
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