Abschied aus deinem Schatten
welcher. Du gehst weiter zur Brien-McMahon-Schule. Ende der Diskussion.”
Wie von Rowena vorhergesagt, war Claudias Niedergeschlagenheit sofort vorbei, sobald feststand, dass sie nur noch das Halbjahr zu Ende bringen musste. Die verbliebene Zeit an der Schule gefiel ihr dann sogar. Sie schloss Freundschaft mit einigen anderen Mädchen und traf sich selbst noch nach Jahren ab und an mit der einen oder anderen. Es gelang ihr sogar, mit einem halbwegs respektablen Notenschnitt abzugehen.
Im folgenden September kehrte Claudia an die unweit des Elternhauses gelegene Highschool zurück. Im Verhältnis zu ihrer Mutter hatte sich allerdings ein tiefer, nahezu unüberbrückbarer Riss aufgetan. Wie bei einer im Wald ausgehobenen Fallgrube war die Oberfläche geschickt getarnt, doch die kleinste Unachtsamkeit reichte, und schon stürzte Jeanne in die Tiefe, wo Claudia bereits im Hinterhalt lag, bereit zur Attacke. Neben vielen anderen Dingen verzieh sie ihrer Mutter die furchtbaren Monate an der Privatschule nie.
„Dennoch besteht die Möglichkeit, dass narzisstische Anwandlungen das Krankheitsbild der Erotomanie überlagern. Wie weithin bekannt, haben auch attraktive Frauen zuweilen mit mangelnder Akzeptanz des eigenen Körpers sowie niedrigem Selbstwertgefühl zu kämpfen … Hat eine solche Frau das Gefühl, ein Mann weise sie ab, tritt das übersteigerte Bild, das sie vorher von sich hatte, besonders scharf hervor …”
Rowena schloss die Augen und dachte an die Gespräche, die sie im zurückliegenden Herbst am Telefon mit ihrer Schwester geführt hatte. Noch jetzt hatte sie Claudias verzückte Schwärmerei im Ohr. „Tony ist ganz verrückt nach mir! Er meint, was Besseres als ich hätte ihm gar nicht passieren können. Er kann von mir nicht genug kriegen!”
„Die Patientin macht ihrem ‚Opfer‘, von dem sie normalerweise keinerlei Ermutigung erfährt, das Leben zur Hölle …
Frauen aus der Gruppe, bei denen das Problem wiederholt auftritt, verhalten sich im Alltagsleben ziemlich aggressiv … Sie sind durchweg ehrgeizige, durchsetzungsfähige Personen, bei denen sich anfänglich durchaus eine Kombination aus Konkurrenzneid, Abneigung und Zorn ausformen kann, die sich dann gegen solche Männer in ihrem Leben richtet, die eine Machtposition ausüben. Erweist sich diese Gefühlskombination als unwirksam, wandelt sie sich unter Umständen zu Bewunderung und zu der Überzeugung, diese Bewunderung sei gegenseitig.
Die Frauen aus der zweiten Gruppe (Frauen mit Erotomanie im eigentlichen Sinne) verhalten sich weniger krankhaft und sind sexuell aktiv, forsch und impulsiv.”
Rowena straffte sich auf ihrem Stuhl. Das klang schon eher nach Claudia! „
Sie suchen sich prominente, machtbewusste Männer aus, bilden sich einige Monate ein, von diesen geliebt zu werden, und lassen das Objekt ihrer Liebe dann fallen, um sich dem nächsten zuzuwenden … Dies kann man als den Versuch deuten, Erfolg und Macht in das eigene Ich zu integrieren.
Bei den Patientinnen war ein Mangel an tiefer gehenden Beziehungen mit den Müttern festzustellen … Aufgrund ihrer Wahnvorstellung versuchten die Frauen, Phasen von Depression und Einsamkeit dadurch abzuwehren, indem sie die durch die mangelnde Mutterbeziehung entstandene Lücke in ihrer Persönlichkeit mit Männern füllten, welche die Rolle des Ernährers, Machthabers und auch Peinigers spielten … Übertrugen sie die Rolle des Liebhabers auch auf ihren Therapeuten, dann hatten die Patientinnen das Gefühl, dieser habe vollkommen die Kontrolle über ihre Emotionen, ihre Handlungen und ihre Zukunft übernommen …”
Während ihr nun immer mehr Bilder aus der Vergangenheit einfielen, widmete Rowena sich abschließend den Notizen, die anlässlich der Besprechung eines Falls vom September 1985 in einer ihr gänzlich unbekannten Klinik gemacht worden waren. Offenbar handelte es sich bei den Aufzeichnungen um die Dokumentation, die Reid von seinem früheren Professor erhalten hatte.
„Unsere Patientinnen suchten sich ausnahmslos ein Objekt ihrer Begierde aus und konfrontierten es mit der Situation, so wie sie diese selbst wahrnahmen
…
Mit der Zeit allerdings, gewöhnlich nach mehrmaliger Zurückweisung durch die Männer, fanden sie sich damit ab, dass ihre Liebe unerfüllt blieb. Dann wandten sie sich einem anderen Mann zu, und der Vorgang wiederholte sich.”
Vieles von dem, was sie gerade gelesen hatte, hätte auf ihre Schwester zutreffen können. Und nachdem sie die Unterlagen
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