Abschied aus deinem Schatten
verärgert.
„Ich warte hier, weil ich mit dir sprechen muss.”
„Dann warte bitte woanders. Ich unterhalte mich gerade. Siehst du das nicht?”
„Es ist wichtig”, erklärte Rowena.
„Du bist dran, wenn ich mein Gespräch beendet habe.”
Den Hörer in der Hand, wartete Jeanne ab, bis ihre Tochter resigniert aufgestanden und gegangen war. Dann setzte sie ihre Unterredung mit der Person am anderen Ende der Leitung fort. „Entschuldige, Darling. Wo waren wir stehen geblieben?”
Rowena ging in ihr Zimmer und erledigte ihre Hausaufgaben, wobei sie sich wie schon so oft fragte, warum Jeanne ihren Bekannten so viel mehr Bedeutung zumaß als ihren Kindern. Einzig einige Monate nach Carys Tod hatte sie ihren Töchtern ihre ungeteilte Aufmerksamkeit geschenkt. Danach war ihr Schmerz offensichtlich völlig versiegt, sodass sie sich wieder ihren Freundinnen und deren endlosem Geplauder über Verabredungen zum Lunch oder zum Dinner oder zum Einkaufsbummel in der City widmen konnte.
Erst nach über einer Stunde erschien ihre Mutter im Türrahmen zu Rowenas Zimmer. „Du wolltest mich sprechen?”
Rowena schloss die Tür, damit ihre Schwester nicht mithören konnte. „Es geht um Claudia.”
„O je! Was ist denn nun schon wieder?” Seufzend durchmaß Jeanne das Zimmer und ließ sich auf der Bettkante nieder. „Kannst du eigentlich nicht mal was wegen deinem Haar unternehmen, Rowena?”
„Was soll damit sein?”
„Es sieht so
unvorteilhaft
aus, mit diesem Mittelscheitel! Hängt einfach herunter wie ein Vorhang! Du könntest dir ruhig mal mit deinem Äußeren etwas mehr Mühe geben!”
Rowena brachte das Gespräch auf das eigentliche Thema zurück. „Wir müssen über Claudia sprechen. Sie ist völlig geknickt und sagt immer wieder, dass sie sterben will. Ich finde, du solltest sie nicht zwingen, in Brandon zu bleiben.”
„Aber die Schule hat so einen hervorragenden Ruf! Claudia hat sich dauernd ablenken lassen und brachte derart mäßige Noten nach Hause … Ich dachte, der Schulwechsel würde ihr gut tun!” Mit gerunzelter Stirn schaute Jeanne auf ihre Designerpumps herab.
„Tut er aber nicht. Sie kann dem Unterrichtsstoff nicht folgen und kommt sich deswegen richtig beschränkt vor. Sie meint, die anderen Mädchen lachen sie aus, weil sie zu dumm sei.”
„Sie ist doch nicht dumm!” rief Jeanne gereizt. „Zugegeben, in Mathematik hapert es etwas, und ihre Handschrift ist grässlich, aber dumm? Nein, das ist sie ganz gewiss nicht!”
„Der Ansicht bin ich auch. Aber sie kann die Schule in Brandon nicht ausstehen. Warum also willst du sie zwingen, dort zu bleiben?”
„Das enttäuscht mich zwar sehr, doch ich möchte natürlich nicht, dass sie sich unglücklich fühlt. Das Halbjahr muss sie allerdings erst abschließen. Und was ist, wenn ihr mein Angebot nicht reicht?” Ihre Frage klang, als habe sie in Rowena eine Erwachsene vor sich, deren Meinung zählte.
„Ich denke, sie wird schon einverstanden sein, wenn sie weiß, dass sie nach den Sommerferien nicht wieder in diese Schule muss.”
„Warum hat sie das eigentlich dir gesagt und nicht mir? Und wieso spielst du ihr Sprachrohr?” wollte Jeanne wissen. „Das sieht euch beiden ganz und gar nicht ähnlich!”
„Na, immerhin ist sie meine Schwester! Und so am Boden zerstört habe ich sie noch nie gesehen.”
„Du bist ein großherziges Mädchen”, bemerkte ihre Mutter, offenbar selbst verblüfft über diese Beobachtung. „Nimm dich in Zukunft in Acht, damit du nicht ausgenutzt wirst!”
Rowena wusste darauf keine Antwort und blieb stumm.
Jeanne seufzte. „Und ich hatte mir wirklich erhofft, dieser Schulwechsel brächte für sie den Umschwung. Offenbar habe ich mich getäuscht.”
„Aber zumindest hast du es versucht”, beschwichtigte Rowena sie.
„Stimmt”, entgegnete Jeanne, überraschend dankbar für die Anerkennung ihrer Mühen. „Ich habe hin und her überlegt, ehe ich deine Schwester auf der neuen Schule anmeldete, doch mir scheint, ich muss ihr den Willen tun und sie wieder abmelden. Ein Jammer!”
Ja und nein, dachte Rowena. Sie selbst hätte sich nicht zweimal bitten lassen, hätte man ihr Brandon angeboten, eine Schule mit allerhöchsten Ansprüchen, deren Absolventen mit Sicherheit die Aufnahmekriterien am College erfüllten. Als Rowena jedoch während der achten Klasse ihre Mutter auf dieses Thema ansprach, hatte diese rundweg abgelehnt. „Du bist gescheit genug und kommst an jeder Schule klar, egal, an
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